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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Böhmische Vorrede zum Slavencongreß in Prag
Von einem Böhmen.



Liebe Landsleute! In wenigen Tagen kommen unsere Brüder von der Donau
und Weichsel, von der Drau und der Wolga nach dieser altberühmten Königs-
stadt. Sämmtliche Kinder der großen Mutter slawa werden gewiß mit Jubel
und Rührung im Schatten der slavischen Linde zusammentreten. Der Vorsatz zur
Einigung und Eintracht wird in allen Herzen aufrichtig sein, aber die mehr als
tausendjährige Trennung hat eine gegenseitige Entfremdung hervorgerufen, die noch
zu überwinden ist. Gleich unsern Nachbarn, den Deutschen, leiden wir an viel¬
facher Spaltung. Dreierlei sind unsere Kirchen: katholisch, evangelisch und grie¬
chisch; fünferlei unsere Schwestersprachen. Einige unserer Brüder leben noch in
halbem Naturzustand, während audere die Feinheit der Franzosen oder die Gelehr¬
samkeit der Deutschen nachahmen. Der Weißrnsse ist fügsam und verträglich, der
stolze Lache bringt Hader und Zwiespalt mit auf die Welt; der Rothrusse verachtet
den Weißen und beide zusammen hassen den Polen. Der Czeche erträgt ausdauernde
Arbeit; der Slowak gibt sein Leben hin sür die Genüsse fauler Träumerei. Die
Wohnsitze und Schicksale der slavischen Stämme haben jeden anders gestellt und
ausgeprägt. Wir leben dichtgedrängt im fruchtbaren Thalkessel mit der herrlichen
Praha zum Mittelpunkt; die Vorzeit steht lebendig vor unsern Blicken, denn Denk¬
male von Stein und Pergament erzählen uns den Ruhm und das Unglück un¬
serer Väter. Andere dagegen sind wie ein Wasser ohne Strombett ausgegossen
über Flächen und Berghänge, zersprengt und geheilt durch unslavische Inselgrup¬
pen; sie haben nie geherrscht, sondern stets vegetirt im erkältenden Schatten des
Fremden; der Sporn des Magyaren, die Schnlruthe des Njemetz hat ihnen Ge¬
setze vorgeschrieben und ihre Erinnerungen müssen in fabelhafter Vorzeit umher¬
tappen, ehe sie ans das nebelhafte Bild einer freien Gesellschaft stoßen. Der Eine
sucht vor Allem einen mächtigen Herrn, welcher ihn besitze und beschütze, der
Andere will gar keinen Meister über sich anerkennen und der dritte sehnt sich nach
fremdartigen abendländischen Staatsformen, die seinen urslavischen Brüdern ein
Gräuel und eine Ketzerei siud. -- Daher besorge ich, daß wir im Schatten der
großen Linde mancherlei Zügel werden unserer Rede anlegen müssen, um unsere
gegenseitigen Wünsche nicht mit einander zu verfeinden. Erlaubt, so lange wir


Böhmische Vorrede zum Slavencongreß in Prag
Von einem Böhmen.



Liebe Landsleute! In wenigen Tagen kommen unsere Brüder von der Donau
und Weichsel, von der Drau und der Wolga nach dieser altberühmten Königs-
stadt. Sämmtliche Kinder der großen Mutter slawa werden gewiß mit Jubel
und Rührung im Schatten der slavischen Linde zusammentreten. Der Vorsatz zur
Einigung und Eintracht wird in allen Herzen aufrichtig sein, aber die mehr als
tausendjährige Trennung hat eine gegenseitige Entfremdung hervorgerufen, die noch
zu überwinden ist. Gleich unsern Nachbarn, den Deutschen, leiden wir an viel¬
facher Spaltung. Dreierlei sind unsere Kirchen: katholisch, evangelisch und grie¬
chisch; fünferlei unsere Schwestersprachen. Einige unserer Brüder leben noch in
halbem Naturzustand, während audere die Feinheit der Franzosen oder die Gelehr¬
samkeit der Deutschen nachahmen. Der Weißrnsse ist fügsam und verträglich, der
stolze Lache bringt Hader und Zwiespalt mit auf die Welt; der Rothrusse verachtet
den Weißen und beide zusammen hassen den Polen. Der Czeche erträgt ausdauernde
Arbeit; der Slowak gibt sein Leben hin sür die Genüsse fauler Träumerei. Die
Wohnsitze und Schicksale der slavischen Stämme haben jeden anders gestellt und
ausgeprägt. Wir leben dichtgedrängt im fruchtbaren Thalkessel mit der herrlichen
Praha zum Mittelpunkt; die Vorzeit steht lebendig vor unsern Blicken, denn Denk¬
male von Stein und Pergament erzählen uns den Ruhm und das Unglück un¬
serer Väter. Andere dagegen sind wie ein Wasser ohne Strombett ausgegossen
über Flächen und Berghänge, zersprengt und geheilt durch unslavische Inselgrup¬
pen; sie haben nie geherrscht, sondern stets vegetirt im erkältenden Schatten des
Fremden; der Sporn des Magyaren, die Schnlruthe des Njemetz hat ihnen Ge¬
setze vorgeschrieben und ihre Erinnerungen müssen in fabelhafter Vorzeit umher¬
tappen, ehe sie ans das nebelhafte Bild einer freien Gesellschaft stoßen. Der Eine
sucht vor Allem einen mächtigen Herrn, welcher ihn besitze und beschütze, der
Andere will gar keinen Meister über sich anerkennen und der dritte sehnt sich nach
fremdartigen abendländischen Staatsformen, die seinen urslavischen Brüdern ein
Gräuel und eine Ketzerei siud. — Daher besorge ich, daß wir im Schatten der
großen Linde mancherlei Zügel werden unserer Rede anlegen müssen, um unsere
gegenseitigen Wünsche nicht mit einander zu verfeinden. Erlaubt, so lange wir


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[0327] Böhmische Vorrede zum Slavencongreß in Prag Von einem Böhmen. Liebe Landsleute! In wenigen Tagen kommen unsere Brüder von der Donau und Weichsel, von der Drau und der Wolga nach dieser altberühmten Königs- stadt. Sämmtliche Kinder der großen Mutter slawa werden gewiß mit Jubel und Rührung im Schatten der slavischen Linde zusammentreten. Der Vorsatz zur Einigung und Eintracht wird in allen Herzen aufrichtig sein, aber die mehr als tausendjährige Trennung hat eine gegenseitige Entfremdung hervorgerufen, die noch zu überwinden ist. Gleich unsern Nachbarn, den Deutschen, leiden wir an viel¬ facher Spaltung. Dreierlei sind unsere Kirchen: katholisch, evangelisch und grie¬ chisch; fünferlei unsere Schwestersprachen. Einige unserer Brüder leben noch in halbem Naturzustand, während audere die Feinheit der Franzosen oder die Gelehr¬ samkeit der Deutschen nachahmen. Der Weißrnsse ist fügsam und verträglich, der stolze Lache bringt Hader und Zwiespalt mit auf die Welt; der Rothrusse verachtet den Weißen und beide zusammen hassen den Polen. Der Czeche erträgt ausdauernde Arbeit; der Slowak gibt sein Leben hin sür die Genüsse fauler Träumerei. Die Wohnsitze und Schicksale der slavischen Stämme haben jeden anders gestellt und ausgeprägt. Wir leben dichtgedrängt im fruchtbaren Thalkessel mit der herrlichen Praha zum Mittelpunkt; die Vorzeit steht lebendig vor unsern Blicken, denn Denk¬ male von Stein und Pergament erzählen uns den Ruhm und das Unglück un¬ serer Väter. Andere dagegen sind wie ein Wasser ohne Strombett ausgegossen über Flächen und Berghänge, zersprengt und geheilt durch unslavische Inselgrup¬ pen; sie haben nie geherrscht, sondern stets vegetirt im erkältenden Schatten des Fremden; der Sporn des Magyaren, die Schnlruthe des Njemetz hat ihnen Ge¬ setze vorgeschrieben und ihre Erinnerungen müssen in fabelhafter Vorzeit umher¬ tappen, ehe sie ans das nebelhafte Bild einer freien Gesellschaft stoßen. Der Eine sucht vor Allem einen mächtigen Herrn, welcher ihn besitze und beschütze, der Andere will gar keinen Meister über sich anerkennen und der dritte sehnt sich nach fremdartigen abendländischen Staatsformen, die seinen urslavischen Brüdern ein Gräuel und eine Ketzerei siud. — Daher besorge ich, daß wir im Schatten der großen Linde mancherlei Zügel werden unserer Rede anlegen müssen, um unsere gegenseitigen Wünsche nicht mit einander zu verfeinden. Erlaubt, so lange wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/327>, abgerufen am 26.06.2024.