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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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besserung der ökonomischen Zustände nicht mehr unbedingt um eine Vermehrung
der Gütererzeugung, sondern zugleich um die Steigerung der Kaufkrast aller Ein¬
zelnen. Allerdings wird noch in allen Ländern zu wenig erzeugt. Allein, was
eine Mehrerzeugung der Hauptsache nach verhindert, das ist nicht die mangelhafte
Ausbeutung des Gesammtkapitals einer Nation/ sondern die fehlende Kaufkrast
der Einzelnen: es ist der Umstand, daß die arbeitende Bevölkerung mit ihrer
Arbeit nicht genug verdient, um M) so viele Erzeugnisse zu kaufen, als zu
einem erträglichen und anständigen Leben erforderlich sind. Nur in dieser Bezie¬
hung haben die Worte "Frankreich erzeugt zu wenig" einen Sinn. Frankreich
besitzt noch eine große Anzahl brachliegender Aecker, die zum Weinbau sich trefflich
eignen, es besitzt als Gesammtheit noch genng Kapitalkraft und eine hinlänglich
große Anzahl geschickter Polytechniker und Arbeiter jeder Art, um diese Kapital¬
kraft auf die ergiebigste Weise auszubeuten. Allein deshalb kann es doch ver¬
nünftiger Weise keinem Weinbauer, keinem Landmanne, überhaupt keinem Pro¬
ducenten einfallen, wehr Produkte zu erzeugen als er voraussichtlich absetzen kann.
Freilich kommt eine solche Mchrerzcngung bisweilen vor, weil sich bei der Anar¬
chie des heutigen industriellen Lebens die Bedürfnisse und die Kaufkrast der Kon-
sumenten nicht genau berechnen lassen. Aber welche Folgen hat eine solche Mehr-
erzeugnng bei dem bestehenden ungeordnete" Zusammenwirken der Arbeits- und
Kapitnlkräfte, bei dem Reichthums der Einen und dem ungenügenden Lohne der
Andern? Mich dünkt, ein Nationalokonom, wie Michel Chevalier, müßte die
Antwort hierauf wissen. Die Folge ist: Ueberfüllung der Märkte, Stockung der
Geschäfte, Ruin der Producenten, und trotz des Ueberflusses bleibt der größte
Theil der Bevölkerung in Lumpen gehüllt, denn, wie schon Sismondi so richtig
bemerkte, um Produkte zu erhalten, bedarf es mehr als des bloßen Wunsches,
man muß anch Geld haben, sie zu kaufen. -

Es genügt dies um zu zeigen, wie irrig oder vielmehr wie einseitig der
Grundsatz ist, von welchem M. Chevalier bei der Lösung des socialen Problems
ausgeht. Seine einzelnen Erörterungen und Folgerungen zu beurtheilen, behalte
ich mir für andere Aufsätze vor. Eine Frage indeß, die ich hier noch zu beant¬
worten habe, eine Frage, die sich unwillkürlich'Jedem aufdrängt, der von M.
Chevalier's socialistischer Laufbahn gehört hat, ist folgende. Wie kommt es, daß
ein Manu, der mit der socialen Bewegung unserer Zeit vertraut ist und sich selbst
praktisch eine Zeitlang an derselben betheiligte, in so einseitiger Weise den Accent
auf die Erzeugung statt ans die Vertheilnng der Güter legt. Hätte man nicht
eher das Gegentheil erwarten sollen?

Wer die Geschichte des französischen Socialismus keimt, kaun sich hierüber
nicht wundern. Michel Chevalier war bekanntlich Se. Simonist und der In-
dustrialismus der Se. Simonisten unterscheidet sich vo" dem Socialismus und
den Organisationsversuchen späterer Schulen wesentlich. Das, worauf Se. Simon
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besserung der ökonomischen Zustände nicht mehr unbedingt um eine Vermehrung
der Gütererzeugung, sondern zugleich um die Steigerung der Kaufkrast aller Ein¬
zelnen. Allerdings wird noch in allen Ländern zu wenig erzeugt. Allein, was
eine Mehrerzeugung der Hauptsache nach verhindert, das ist nicht die mangelhafte
Ausbeutung des Gesammtkapitals einer Nation/ sondern die fehlende Kaufkrast
der Einzelnen: es ist der Umstand, daß die arbeitende Bevölkerung mit ihrer
Arbeit nicht genug verdient, um M) so viele Erzeugnisse zu kaufen, als zu
einem erträglichen und anständigen Leben erforderlich sind. Nur in dieser Bezie¬
hung haben die Worte „Frankreich erzeugt zu wenig" einen Sinn. Frankreich
besitzt noch eine große Anzahl brachliegender Aecker, die zum Weinbau sich trefflich
eignen, es besitzt als Gesammtheit noch genng Kapitalkraft und eine hinlänglich
große Anzahl geschickter Polytechniker und Arbeiter jeder Art, um diese Kapital¬
kraft auf die ergiebigste Weise auszubeuten. Allein deshalb kann es doch ver¬
nünftiger Weise keinem Weinbauer, keinem Landmanne, überhaupt keinem Pro¬
ducenten einfallen, wehr Produkte zu erzeugen als er voraussichtlich absetzen kann.
Freilich kommt eine solche Mchrerzcngung bisweilen vor, weil sich bei der Anar¬
chie des heutigen industriellen Lebens die Bedürfnisse und die Kaufkrast der Kon-
sumenten nicht genau berechnen lassen. Aber welche Folgen hat eine solche Mehr-
erzeugnng bei dem bestehenden ungeordnete» Zusammenwirken der Arbeits- und
Kapitnlkräfte, bei dem Reichthums der Einen und dem ungenügenden Lohne der
Andern? Mich dünkt, ein Nationalokonom, wie Michel Chevalier, müßte die
Antwort hierauf wissen. Die Folge ist: Ueberfüllung der Märkte, Stockung der
Geschäfte, Ruin der Producenten, und trotz des Ueberflusses bleibt der größte
Theil der Bevölkerung in Lumpen gehüllt, denn, wie schon Sismondi so richtig
bemerkte, um Produkte zu erhalten, bedarf es mehr als des bloßen Wunsches,
man muß anch Geld haben, sie zu kaufen. -

Es genügt dies um zu zeigen, wie irrig oder vielmehr wie einseitig der
Grundsatz ist, von welchem M. Chevalier bei der Lösung des socialen Problems
ausgeht. Seine einzelnen Erörterungen und Folgerungen zu beurtheilen, behalte
ich mir für andere Aufsätze vor. Eine Frage indeß, die ich hier noch zu beant¬
worten habe, eine Frage, die sich unwillkürlich'Jedem aufdrängt, der von M.
Chevalier's socialistischer Laufbahn gehört hat, ist folgende. Wie kommt es, daß
ein Manu, der mit der socialen Bewegung unserer Zeit vertraut ist und sich selbst
praktisch eine Zeitlang an derselben betheiligte, in so einseitiger Weise den Accent
auf die Erzeugung statt ans die Vertheilnng der Güter legt. Hätte man nicht
eher das Gegentheil erwarten sollen?

Wer die Geschichte des französischen Socialismus keimt, kaun sich hierüber
nicht wundern. Michel Chevalier war bekanntlich Se. Simonist und der In-
dustrialismus der Se. Simonisten unterscheidet sich vo» dem Socialismus und
den Organisationsversuchen späterer Schulen wesentlich. Das, worauf Se. Simon
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[0325] besserung der ökonomischen Zustände nicht mehr unbedingt um eine Vermehrung der Gütererzeugung, sondern zugleich um die Steigerung der Kaufkrast aller Ein¬ zelnen. Allerdings wird noch in allen Ländern zu wenig erzeugt. Allein, was eine Mehrerzeugung der Hauptsache nach verhindert, das ist nicht die mangelhafte Ausbeutung des Gesammtkapitals einer Nation/ sondern die fehlende Kaufkrast der Einzelnen: es ist der Umstand, daß die arbeitende Bevölkerung mit ihrer Arbeit nicht genug verdient, um M) so viele Erzeugnisse zu kaufen, als zu einem erträglichen und anständigen Leben erforderlich sind. Nur in dieser Bezie¬ hung haben die Worte „Frankreich erzeugt zu wenig" einen Sinn. Frankreich besitzt noch eine große Anzahl brachliegender Aecker, die zum Weinbau sich trefflich eignen, es besitzt als Gesammtheit noch genng Kapitalkraft und eine hinlänglich große Anzahl geschickter Polytechniker und Arbeiter jeder Art, um diese Kapital¬ kraft auf die ergiebigste Weise auszubeuten. Allein deshalb kann es doch ver¬ nünftiger Weise keinem Weinbauer, keinem Landmanne, überhaupt keinem Pro¬ ducenten einfallen, wehr Produkte zu erzeugen als er voraussichtlich absetzen kann. Freilich kommt eine solche Mchrerzcngung bisweilen vor, weil sich bei der Anar¬ chie des heutigen industriellen Lebens die Bedürfnisse und die Kaufkrast der Kon- sumenten nicht genau berechnen lassen. Aber welche Folgen hat eine solche Mehr- erzeugnng bei dem bestehenden ungeordnete» Zusammenwirken der Arbeits- und Kapitnlkräfte, bei dem Reichthums der Einen und dem ungenügenden Lohne der Andern? Mich dünkt, ein Nationalokonom, wie Michel Chevalier, müßte die Antwort hierauf wissen. Die Folge ist: Ueberfüllung der Märkte, Stockung der Geschäfte, Ruin der Producenten, und trotz des Ueberflusses bleibt der größte Theil der Bevölkerung in Lumpen gehüllt, denn, wie schon Sismondi so richtig bemerkte, um Produkte zu erhalten, bedarf es mehr als des bloßen Wunsches, man muß anch Geld haben, sie zu kaufen. - Es genügt dies um zu zeigen, wie irrig oder vielmehr wie einseitig der Grundsatz ist, von welchem M. Chevalier bei der Lösung des socialen Problems ausgeht. Seine einzelnen Erörterungen und Folgerungen zu beurtheilen, behalte ich mir für andere Aufsätze vor. Eine Frage indeß, die ich hier noch zu beant¬ worten habe, eine Frage, die sich unwillkürlich'Jedem aufdrängt, der von M. Chevalier's socialistischer Laufbahn gehört hat, ist folgende. Wie kommt es, daß ein Manu, der mit der socialen Bewegung unserer Zeit vertraut ist und sich selbst praktisch eine Zeitlang an derselben betheiligte, in so einseitiger Weise den Accent auf die Erzeugung statt ans die Vertheilnng der Güter legt. Hätte man nicht eher das Gegentheil erwarten sollen? Wer die Geschichte des französischen Socialismus keimt, kaun sich hierüber nicht wundern. Michel Chevalier war bekanntlich Se. Simonist und der In- dustrialismus der Se. Simonisten unterscheidet sich vo» dem Socialismus und den Organisationsversuchen späterer Schulen wesentlich. Das, worauf Se. Simon * 4!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/325>, abgerufen am 26.06.2024.