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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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"Zwar erst vor 25 Jahren," das sind Chevalier's eigne Worte, "vernahm
man von der Nationaltribnne herab, aus dem Munde eines Generaldirektors und
Deputaten jene Behauptung, die, ich will nicht sagen bei allen nur ein wenig
ökonomisch Gebildeten, sondern bei jedem Menschenfreunde Schauder erregten:
"Frankreich erzeugt zu viel!" Was doch, ich bitte euch, erzeugt Frankreich zu
viel? Getreide nicht, weil die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs nur von
Roggen, Buchweizen, Kastanien und Erdbiruen lebt und man in keinem Depar¬
tement das Getreide ius Wasser wirft. Fleisch ist es auch uicht: denn ein Fran¬
zose genießt davon im Durchschnitt nur halb so viel, als ein Engländer, und ich
wüßte nicht, daß es in unserer Provinz irgend wo Rindvieh gäbe, das nicht aus
dem Markte nnögeboten wird. Eben so wenig kann es Wein sein. Wie Viele
unserer Landsleute trinken den ganzen Tag nichts als Wasser, ohne daß die
Grundbesitzer von Bordeaux oder der Bourgogne den Inhalt ihrer Fässer auf die
Straße gießen. Wären es vielleicht Kleiduugsartil'el? Doch nicht; denn sehr
viele Franzosen sind sehr schlecht gekleidet und frieren, und nirgends macht man
Freudenfeuer mit überflüssigem Baumwvlleuzeuge, mit Decken oder Tüchern. Ge¬
rade so verhält es sich mit allen wesentlichen Produkten, mit allen, die irgend
eine Bedeutung haben. Ich muß also gestehen, und müßte sich der selige Herr
Syriegs auch darüber im Grabe umkehre", wo er ruht und wohin ihm leider
seine ökonomischen Grundsätze nicht gefolgt find: es ist uicht wahr, daß Frankreich
zu viel erzeugt. Im Gegentheil, es fehlt sehr viel, daß es so viel erzeugt, als
nothwendig wäre, daß alle seine Kinder dem Drucke der entwürdigenden Noth
entrissen werden könnten, und folglich kann das sociale Problem der
Verbesserung des vierten Standes uur durch eine großartige
Entwicklung der Produktion gelöst werden."

Frankreich erzeugt nicht zu viel/ im Gegentheil es erzeugt zu wenig. Es
kommt daher nicht auf eine andere Vertheilung, sondern auf eine Vermehrung
der Produkte an. Alles reducirt sich ans die Forderung: man vermehre das Ka¬
pital, d. h. man steigere die Produktivkraft des Landes unter allen Formen.

Glaubt es, ihr Arbeiter, das Kapital ist euer bester Freund und euer mäch¬
tigster Bundesgenosse. Widmet seiner Vermehrung alle eure Kräfte nud es wird
dem französischen Volke bald an Lebens- nud Geuußmittcln nicht mehr fehlen!

Es läßt sich denken, wie gelegen diese Argumentation aus dem Munde eines
Mannes, wie M. Chevalier, allen denen kommen mußte, denen die Lohnfrage
des Socialismus schon längst ein Dorn im Auge gewesen war und die es für einen
unverantwortlichen Leichtsinn hielten, daß Louis Blane diese Frage zu einer
Staatssrage gemacht habe. Ich meinerseits muß gestehen, jemehr ich eine all¬
seitige, alle Parteien befriedigende Losung des socialen Problems wünsche, um
so mehr bedauere ich, daß Herr Chevalier sich diesmal zu einer so leichten und
oberflächlichen Behandlung der Frage hat verleiten lassen. Wie ist es möglich,


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„Zwar erst vor 25 Jahren," das sind Chevalier's eigne Worte, „vernahm
man von der Nationaltribnne herab, aus dem Munde eines Generaldirektors und
Deputaten jene Behauptung, die, ich will nicht sagen bei allen nur ein wenig
ökonomisch Gebildeten, sondern bei jedem Menschenfreunde Schauder erregten:
„Frankreich erzeugt zu viel!" Was doch, ich bitte euch, erzeugt Frankreich zu
viel? Getreide nicht, weil die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs nur von
Roggen, Buchweizen, Kastanien und Erdbiruen lebt und man in keinem Depar¬
tement das Getreide ius Wasser wirft. Fleisch ist es auch uicht: denn ein Fran¬
zose genießt davon im Durchschnitt nur halb so viel, als ein Engländer, und ich
wüßte nicht, daß es in unserer Provinz irgend wo Rindvieh gäbe, das nicht aus
dem Markte nnögeboten wird. Eben so wenig kann es Wein sein. Wie Viele
unserer Landsleute trinken den ganzen Tag nichts als Wasser, ohne daß die
Grundbesitzer von Bordeaux oder der Bourgogne den Inhalt ihrer Fässer auf die
Straße gießen. Wären es vielleicht Kleiduugsartil'el? Doch nicht; denn sehr
viele Franzosen sind sehr schlecht gekleidet und frieren, und nirgends macht man
Freudenfeuer mit überflüssigem Baumwvlleuzeuge, mit Decken oder Tüchern. Ge¬
rade so verhält es sich mit allen wesentlichen Produkten, mit allen, die irgend
eine Bedeutung haben. Ich muß also gestehen, und müßte sich der selige Herr
Syriegs auch darüber im Grabe umkehre», wo er ruht und wohin ihm leider
seine ökonomischen Grundsätze nicht gefolgt find: es ist uicht wahr, daß Frankreich
zu viel erzeugt. Im Gegentheil, es fehlt sehr viel, daß es so viel erzeugt, als
nothwendig wäre, daß alle seine Kinder dem Drucke der entwürdigenden Noth
entrissen werden könnten, und folglich kann das sociale Problem der
Verbesserung des vierten Standes uur durch eine großartige
Entwicklung der Produktion gelöst werden."

Frankreich erzeugt nicht zu viel/ im Gegentheil es erzeugt zu wenig. Es
kommt daher nicht auf eine andere Vertheilung, sondern auf eine Vermehrung
der Produkte an. Alles reducirt sich ans die Forderung: man vermehre das Ka¬
pital, d. h. man steigere die Produktivkraft des Landes unter allen Formen.

Glaubt es, ihr Arbeiter, das Kapital ist euer bester Freund und euer mäch¬
tigster Bundesgenosse. Widmet seiner Vermehrung alle eure Kräfte nud es wird
dem französischen Volke bald an Lebens- nud Geuußmittcln nicht mehr fehlen!

Es läßt sich denken, wie gelegen diese Argumentation aus dem Munde eines
Mannes, wie M. Chevalier, allen denen kommen mußte, denen die Lohnfrage
des Socialismus schon längst ein Dorn im Auge gewesen war und die es für einen
unverantwortlichen Leichtsinn hielten, daß Louis Blane diese Frage zu einer
Staatssrage gemacht habe. Ich meinerseits muß gestehen, jemehr ich eine all¬
seitige, alle Parteien befriedigende Losung des socialen Problems wünsche, um
so mehr bedauere ich, daß Herr Chevalier sich diesmal zu einer so leichten und
oberflächlichen Behandlung der Frage hat verleiten lassen. Wie ist es möglich,


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[0323] „Zwar erst vor 25 Jahren," das sind Chevalier's eigne Worte, „vernahm man von der Nationaltribnne herab, aus dem Munde eines Generaldirektors und Deputaten jene Behauptung, die, ich will nicht sagen bei allen nur ein wenig ökonomisch Gebildeten, sondern bei jedem Menschenfreunde Schauder erregten: „Frankreich erzeugt zu viel!" Was doch, ich bitte euch, erzeugt Frankreich zu viel? Getreide nicht, weil die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs nur von Roggen, Buchweizen, Kastanien und Erdbiruen lebt und man in keinem Depar¬ tement das Getreide ius Wasser wirft. Fleisch ist es auch uicht: denn ein Fran¬ zose genießt davon im Durchschnitt nur halb so viel, als ein Engländer, und ich wüßte nicht, daß es in unserer Provinz irgend wo Rindvieh gäbe, das nicht aus dem Markte nnögeboten wird. Eben so wenig kann es Wein sein. Wie Viele unserer Landsleute trinken den ganzen Tag nichts als Wasser, ohne daß die Grundbesitzer von Bordeaux oder der Bourgogne den Inhalt ihrer Fässer auf die Straße gießen. Wären es vielleicht Kleiduugsartil'el? Doch nicht; denn sehr viele Franzosen sind sehr schlecht gekleidet und frieren, und nirgends macht man Freudenfeuer mit überflüssigem Baumwvlleuzeuge, mit Decken oder Tüchern. Ge¬ rade so verhält es sich mit allen wesentlichen Produkten, mit allen, die irgend eine Bedeutung haben. Ich muß also gestehen, und müßte sich der selige Herr Syriegs auch darüber im Grabe umkehre», wo er ruht und wohin ihm leider seine ökonomischen Grundsätze nicht gefolgt find: es ist uicht wahr, daß Frankreich zu viel erzeugt. Im Gegentheil, es fehlt sehr viel, daß es so viel erzeugt, als nothwendig wäre, daß alle seine Kinder dem Drucke der entwürdigenden Noth entrissen werden könnten, und folglich kann das sociale Problem der Verbesserung des vierten Standes uur durch eine großartige Entwicklung der Produktion gelöst werden." Frankreich erzeugt nicht zu viel/ im Gegentheil es erzeugt zu wenig. Es kommt daher nicht auf eine andere Vertheilung, sondern auf eine Vermehrung der Produkte an. Alles reducirt sich ans die Forderung: man vermehre das Ka¬ pital, d. h. man steigere die Produktivkraft des Landes unter allen Formen. Glaubt es, ihr Arbeiter, das Kapital ist euer bester Freund und euer mäch¬ tigster Bundesgenosse. Widmet seiner Vermehrung alle eure Kräfte nud es wird dem französischen Volke bald an Lebens- nud Geuußmittcln nicht mehr fehlen! Es läßt sich denken, wie gelegen diese Argumentation aus dem Munde eines Mannes, wie M. Chevalier, allen denen kommen mußte, denen die Lohnfrage des Socialismus schon längst ein Dorn im Auge gewesen war und die es für einen unverantwortlichen Leichtsinn hielten, daß Louis Blane diese Frage zu einer Staatssrage gemacht habe. Ich meinerseits muß gestehen, jemehr ich eine all¬ seitige, alle Parteien befriedigende Losung des socialen Problems wünsche, um so mehr bedauere ich, daß Herr Chevalier sich diesmal zu einer so leichten und oberflächlichen Behandlung der Frage hat verleiten lassen. Wie ist es möglich, Grcnzlwlcn. 'l. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/323>, abgerufen am 26.06.2024.