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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Michel Chevalier und der Saint-Simonismus.



Der bedeutende Ruf, welchen sich Michel Chevalier als Nationalökonvm er¬
worben hat, seine Lebensschicksale, seine frühere Theilnahme an der Se. Simoni¬
stischen Propaganda: alles dies in Verbindung mit den neuesten Ereignissen in
Frankreich und den immer lauter werdenden Forderungen des Proletariats, ver¬
leiht seiner Beurtheilung des socialen Problems ein ganz besonderes Interesse.
Seine Briefe über die Arbeiterfrage, welche er kurz nach den Februar-
Tagen, fast noch unter dem Lärm des Kampfes, schrieb, wurden daher in Deutsch¬
land rasch in Uebersetzungen verbreitet.

Herr Michel Chevalier hat seinen Grundgedanken so scharf gezeichnet; er hat
die leitende Idee so pregnant ausgesprochen, daß es leicht ist, den Kern seiner
Argumentation aus der rhetorischen Umhüllung herauszuschälen und der Analyse
zu unterwerfen.

Dürfen wir Chevalier glauben, so geht der Socialismus und besonders der
des Herrn Louis Blanc von einer durchaus falschen Voraussetzung aus. Ihr
Socialisten, das ist der Sinn seiner weitläufigen Erörterungen, ihr glaubt, es
käme bei der Organisation der Arbeit darauf an, einen ungerechten und ungenü¬
genden Lohn durch eine gerechte und höhere Belohnung der Arbeit zu ersetzen.
Faßt doch endlich einmal die gegebenen Zustände etwas scharf in's Auge, damit ihr
durch eure Versprechungen und Decrete nicht unnöthiger Weise Hoffnungen erregt,
die sich nicht erfüllen lassen. Um den vierten Stand, um die zahlreichste Klasse
unserer Bevölkerung auf denjenigen Grad von Wohlstand zu erheben, unter wel¬
chem von Freiheit und Würde keine Rede sein kann, fehlt es uns heutzutage
nicht an einer zweckmäßigen Vertheilung der Producte, nicht wie man wohl ge¬
sagt hat, an einer gerechten Participation am Gewinne; was unserm Vaterlande
fehlt, ist vielmehr eine hinreichende Erzeugung von Producten aller Art, von
Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken , Hausgeräth und Heizung. Ihr mögt daher
die Producte des heutigen Frankreich vertheilen wie ihr wollt, ihr mögt noch
so viele Participationssysteme erfinden: -- ich kann euch beweisen, daß ihr damit
die Armuth nicht beseitigt; denn Frankreich ist im eigentlichsten Sinne des Wor¬
tes jetzt zu arm, es erzeugt im Verhältnisse zu seiner Bevölkerung zu wenig
Producte.


Michel Chevalier und der Saint-Simonismus.



Der bedeutende Ruf, welchen sich Michel Chevalier als Nationalökonvm er¬
worben hat, seine Lebensschicksale, seine frühere Theilnahme an der Se. Simoni¬
stischen Propaganda: alles dies in Verbindung mit den neuesten Ereignissen in
Frankreich und den immer lauter werdenden Forderungen des Proletariats, ver¬
leiht seiner Beurtheilung des socialen Problems ein ganz besonderes Interesse.
Seine Briefe über die Arbeiterfrage, welche er kurz nach den Februar-
Tagen, fast noch unter dem Lärm des Kampfes, schrieb, wurden daher in Deutsch¬
land rasch in Uebersetzungen verbreitet.

Herr Michel Chevalier hat seinen Grundgedanken so scharf gezeichnet; er hat
die leitende Idee so pregnant ausgesprochen, daß es leicht ist, den Kern seiner
Argumentation aus der rhetorischen Umhüllung herauszuschälen und der Analyse
zu unterwerfen.

Dürfen wir Chevalier glauben, so geht der Socialismus und besonders der
des Herrn Louis Blanc von einer durchaus falschen Voraussetzung aus. Ihr
Socialisten, das ist der Sinn seiner weitläufigen Erörterungen, ihr glaubt, es
käme bei der Organisation der Arbeit darauf an, einen ungerechten und ungenü¬
genden Lohn durch eine gerechte und höhere Belohnung der Arbeit zu ersetzen.
Faßt doch endlich einmal die gegebenen Zustände etwas scharf in's Auge, damit ihr
durch eure Versprechungen und Decrete nicht unnöthiger Weise Hoffnungen erregt,
die sich nicht erfüllen lassen. Um den vierten Stand, um die zahlreichste Klasse
unserer Bevölkerung auf denjenigen Grad von Wohlstand zu erheben, unter wel¬
chem von Freiheit und Würde keine Rede sein kann, fehlt es uns heutzutage
nicht an einer zweckmäßigen Vertheilung der Producte, nicht wie man wohl ge¬
sagt hat, an einer gerechten Participation am Gewinne; was unserm Vaterlande
fehlt, ist vielmehr eine hinreichende Erzeugung von Producten aller Art, von
Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken , Hausgeräth und Heizung. Ihr mögt daher
die Producte des heutigen Frankreich vertheilen wie ihr wollt, ihr mögt noch
so viele Participationssysteme erfinden: — ich kann euch beweisen, daß ihr damit
die Armuth nicht beseitigt; denn Frankreich ist im eigentlichsten Sinne des Wor¬
tes jetzt zu arm, es erzeugt im Verhältnisse zu seiner Bevölkerung zu wenig
Producte.


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[0322] Michel Chevalier und der Saint-Simonismus. Der bedeutende Ruf, welchen sich Michel Chevalier als Nationalökonvm er¬ worben hat, seine Lebensschicksale, seine frühere Theilnahme an der Se. Simoni¬ stischen Propaganda: alles dies in Verbindung mit den neuesten Ereignissen in Frankreich und den immer lauter werdenden Forderungen des Proletariats, ver¬ leiht seiner Beurtheilung des socialen Problems ein ganz besonderes Interesse. Seine Briefe über die Arbeiterfrage, welche er kurz nach den Februar- Tagen, fast noch unter dem Lärm des Kampfes, schrieb, wurden daher in Deutsch¬ land rasch in Uebersetzungen verbreitet. Herr Michel Chevalier hat seinen Grundgedanken so scharf gezeichnet; er hat die leitende Idee so pregnant ausgesprochen, daß es leicht ist, den Kern seiner Argumentation aus der rhetorischen Umhüllung herauszuschälen und der Analyse zu unterwerfen. Dürfen wir Chevalier glauben, so geht der Socialismus und besonders der des Herrn Louis Blanc von einer durchaus falschen Voraussetzung aus. Ihr Socialisten, das ist der Sinn seiner weitläufigen Erörterungen, ihr glaubt, es käme bei der Organisation der Arbeit darauf an, einen ungerechten und ungenü¬ genden Lohn durch eine gerechte und höhere Belohnung der Arbeit zu ersetzen. Faßt doch endlich einmal die gegebenen Zustände etwas scharf in's Auge, damit ihr durch eure Versprechungen und Decrete nicht unnöthiger Weise Hoffnungen erregt, die sich nicht erfüllen lassen. Um den vierten Stand, um die zahlreichste Klasse unserer Bevölkerung auf denjenigen Grad von Wohlstand zu erheben, unter wel¬ chem von Freiheit und Würde keine Rede sein kann, fehlt es uns heutzutage nicht an einer zweckmäßigen Vertheilung der Producte, nicht wie man wohl ge¬ sagt hat, an einer gerechten Participation am Gewinne; was unserm Vaterlande fehlt, ist vielmehr eine hinreichende Erzeugung von Producten aller Art, von Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken , Hausgeräth und Heizung. Ihr mögt daher die Producte des heutigen Frankreich vertheilen wie ihr wollt, ihr mögt noch so viele Participationssysteme erfinden: — ich kann euch beweisen, daß ihr damit die Armuth nicht beseitigt; denn Frankreich ist im eigentlichsten Sinne des Wor¬ tes jetzt zu arm, es erzeugt im Verhältnisse zu seiner Bevölkerung zu wenig Producte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/322>, abgerufen am 26.06.2024.