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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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konservative und Uadieale.

Ein epigrammatischer Ausspruch hat den Vorzug, leicht im Gedächtniß zu bleiben.
Viele von den politischen Sympathien und Antipathien beruhen auf solchen Schätzen
des Gedächtnisses. Als das Juste Milieu in Frankreich auskam, hatte die deutsche
Doctrin nichts eiligeres zu thun, als diese Partei durch ein epigrammatisches Stichwort
zu classificiren. Die Gegensätze: heiß, kalt; die Vermittelung: lau; lau ist eine Halb¬
heit, das Juste Milieu ist ein halbes Wesen. Börne sagte damals: Wenn der eine
behauptet, 2 X 2 ----- 4. der andere, 2 X 2 ----- ö, und ich in Folge dessen ausrechne,
2 X 2 ----- 5 . so bin ich Juste Milieu. Diese Definition ist leicht zu merken, denn
sie ist abstract und gedankenlos. Wenn'nun ein anderer käme, und sie so modificirte:
Bei 24° Kälte heizt das conservative Princip gar nicht, der Radicalismus steckt das
Haus an, und dem Juste Milieu wird also nichts anderes übrig bleiben, als in den
Ösen so lange Holz zu legen, bis er warm wird, so ist das schon complicirter, und
löscht den Eindruck jenes leicht begreiflichen mathematischen Verhältnisses nicht aus.

Wir sind fabelhafte Formalisten in der Politik, die Franzosen haben uns damit
angesteckt. Wenn wir irgend einen politischen Begriff auf eine Formel reducirt haben,
so glauben wir, damit fertig zu sein. Es ist nichts einfacher, als Parteien auf das
quantitative Verhältniß zurückzuführen: A "geht weiter" als B. Nun haben wir, je
nach dem Grad unserer eigenen Gesinnung, einen Maßstab. Je weiter man geht, je
radicaler man ist, je hoher das Selbstgefühl. Die Berliner hatten es seit alter Zeit
in dieser Ueberwindung antiquirtcr Staudpunkte am weitesten gebracht. "Konstitutionelle
Monarchie?" Nichts! -- Einkammersystem! -- Bcigatcll. -- Allgemeines Wahlrecht! --
Halbheit! -- Republik -- Genügt lange nicht! -- Communismus -- Geht nicht weit
genug. -- Gar kein Staat, Anarchie -- Ist auch noch ein untergeordneter Standpunkt --
Und so weiter, eine andere Grenze kann man bei diesem endlosen Prozeß nicht setzen,
als die Ermüdung der Langeweile.

Daß auch in Parteiungen ein qualitativer Unterschied stattfindet, daß es nicht
blos daraus ankomme, daß man fortschreitet, sondern wohin man fortschreitet; diese
Betrachtung ist zu concret für den subalternen Verstand unserer Politischen Registratoren.

Der abstracte Radikalismus war vor einem Jahrhundert, d. h. vor dem 24. Fe¬
bruar, mir verdrießlich; heute ist er gefährlich und man muß ihn ernstlich bekämpfen.
Man bekämpft ihn, indem man ihn analysirt.

Das Princip des Radikalismus ist der Gegensatz des conservativen; aber nicht ein
Gegensatz, der den Politischen Begriff erschöpft, sondern ein Gegensatz der Einseitigk-neu.

Konservativ ist. wer zu bequem, zu faul, zu behaglich in seinem alten Zustande
ist, um sich zu rühren, wer daher jedem Stoß die Kraft der Trägheit entgegensetzt.

Radikal sind die Malcontenten ans Princip, die Ungeduldigen, die alles, was
ihnen dnrch den Kopf geht, augenblicklich und zugleich realisirt sehen wollen, die aber.


konservative und Uadieale.

Ein epigrammatischer Ausspruch hat den Vorzug, leicht im Gedächtniß zu bleiben.
Viele von den politischen Sympathien und Antipathien beruhen auf solchen Schätzen
des Gedächtnisses. Als das Juste Milieu in Frankreich auskam, hatte die deutsche
Doctrin nichts eiligeres zu thun, als diese Partei durch ein epigrammatisches Stichwort
zu classificiren. Die Gegensätze: heiß, kalt; die Vermittelung: lau; lau ist eine Halb¬
heit, das Juste Milieu ist ein halbes Wesen. Börne sagte damals: Wenn der eine
behauptet, 2 X 2 ----- 4. der andere, 2 X 2 ----- ö, und ich in Folge dessen ausrechne,
2 X 2 ----- 5 . so bin ich Juste Milieu. Diese Definition ist leicht zu merken, denn
sie ist abstract und gedankenlos. Wenn'nun ein anderer käme, und sie so modificirte:
Bei 24° Kälte heizt das conservative Princip gar nicht, der Radicalismus steckt das
Haus an, und dem Juste Milieu wird also nichts anderes übrig bleiben, als in den
Ösen so lange Holz zu legen, bis er warm wird, so ist das schon complicirter, und
löscht den Eindruck jenes leicht begreiflichen mathematischen Verhältnisses nicht aus.

Wir sind fabelhafte Formalisten in der Politik, die Franzosen haben uns damit
angesteckt. Wenn wir irgend einen politischen Begriff auf eine Formel reducirt haben,
so glauben wir, damit fertig zu sein. Es ist nichts einfacher, als Parteien auf das
quantitative Verhältniß zurückzuführen: A „geht weiter" als B. Nun haben wir, je
nach dem Grad unserer eigenen Gesinnung, einen Maßstab. Je weiter man geht, je
radicaler man ist, je hoher das Selbstgefühl. Die Berliner hatten es seit alter Zeit
in dieser Ueberwindung antiquirtcr Staudpunkte am weitesten gebracht. „Konstitutionelle
Monarchie?" Nichts! — Einkammersystem! — Bcigatcll. — Allgemeines Wahlrecht! —
Halbheit! — Republik — Genügt lange nicht! — Communismus — Geht nicht weit
genug. — Gar kein Staat, Anarchie — Ist auch noch ein untergeordneter Standpunkt —
Und so weiter, eine andere Grenze kann man bei diesem endlosen Prozeß nicht setzen,
als die Ermüdung der Langeweile.

Daß auch in Parteiungen ein qualitativer Unterschied stattfindet, daß es nicht
blos daraus ankomme, daß man fortschreitet, sondern wohin man fortschreitet; diese
Betrachtung ist zu concret für den subalternen Verstand unserer Politischen Registratoren.

Der abstracte Radikalismus war vor einem Jahrhundert, d. h. vor dem 24. Fe¬
bruar, mir verdrießlich; heute ist er gefährlich und man muß ihn ernstlich bekämpfen.
Man bekämpft ihn, indem man ihn analysirt.

Das Princip des Radikalismus ist der Gegensatz des conservativen; aber nicht ein
Gegensatz, der den Politischen Begriff erschöpft, sondern ein Gegensatz der Einseitigk-neu.

Konservativ ist. wer zu bequem, zu faul, zu behaglich in seinem alten Zustande
ist, um sich zu rühren, wer daher jedem Stoß die Kraft der Trägheit entgegensetzt.

Radikal sind die Malcontenten ans Princip, die Ungeduldigen, die alles, was
ihnen dnrch den Kopf geht, augenblicklich und zugleich realisirt sehen wollen, die aber.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/311>, abgerufen am 26.06.2024.