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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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weil es Niemand als unangenehme Nothwendigkeiten und der Zeitgeist
vorwärts jagt, der wird sehr leicht fassen, warum man noch nicht in
Bezug der Hauptbedingungen einer neuen Umgestaltung übereingekommen,
indem doch die Uebergangsepoche schon ihre Volljährigkeit überschritten, ja
die legitime Gesellschaft selbst an Bildung, Intelligenz und sozialer That¬
kraft so rasch zugenommen, daß ihr europäisches Wesen von den bestehenden
Gesetzen durch eiuen großen Jdeenranm getrennt ist."

Es wird nachgewiesen, wie der ungarische Adel, aus dem eigentlich
das Volk besteht, die beiden entgegengesetzten Sünden der Oligarchie und
Ochlokratie in sich vereinigt. Der hohe Adel habe sich indessen jetzt von
der nationalen Bewegung getrennt und sich dem Hofe angeschlossen.

"Ungarn war längere Zeit das Opfer seiner Eitelkeit und Illusionen,
und dennoch konnte die Regierung mit Gewißheit hoffen, dem Vertrauen
des Landes zu begegnen, wenn sie auf den Fleck geklopft, wo Ungarn zu¬
meist menschlich gesinnt gewesen. Die neue Regierung (1843) verschmähte
die alten Mittel, sie erkannte die Umgestaltung der Weltverhältnisse und
das Thauwetter in der mittelalterlichen Erstarrung ungarischer Lande. Dies¬
mal schlug sie einen Weg ein, der gerade zu deu eiternden Wunden des
Landes führte; denn die königlichen Propositionen bei Eröffnung des Reichs¬
tags waren, wenn auch in Halbdunkel gehüllt, nur der Ausdruck jener
großen neuen Partei, wie ihn die liberale Presse veröffentlichte. Die Ne¬
gierung war durch diese plötzliche Wendung Meister der Bewegung; sie
konnte sie leiten, denn sie hatte nichts gegen sich als die höhere Aristokra¬
tie. -- Was that jedoch die Negierung? Statt jene Partei zu unterstützen,
die ihren Absichten freudigen Beifall zollte, die zumeist im nationalen Boden
wurzelt, die allem eine Zukunft hat, erschrak sie vor den organischen Schö¬
pfungen und dem freien Wesen der untern Kammer und ging zu den Mag¬
naten über. -- Sie hatte weder den Muth uoch nachhaltigem Ernst, jene
Fragen durchzuführen, die sie selbst bevorwortet. -- Es ist die Opposition
gewesen, die, selbst privilegirt und adelig, seit einigen Jahren den Kampf
gegen Privilegien und Adelsherrschaft, für neue europäische Gründungen,
für Nationalität und Gewissensfreiheit, gegen Regierung und hohe Aristo¬
kratie geführt; es ist die Opposition gewesen, welche die Fesseln des unga¬
rischen Bauernstandes uach Möglichkeit und nach hartem Streite mit Regie¬
rung und hoher Aristokratie gelockert; es ist die Opposition gewesen, die
sich des Volkes nur allein angenommen, die für dessen Freiheit, constitutio-
nelle Berechtigung im Sinne geregelter Ordnung, für ein freies Staats-


Gl'-nzlwtcn. I". 1847. K

weil es Niemand als unangenehme Nothwendigkeiten und der Zeitgeist
vorwärts jagt, der wird sehr leicht fassen, warum man noch nicht in
Bezug der Hauptbedingungen einer neuen Umgestaltung übereingekommen,
indem doch die Uebergangsepoche schon ihre Volljährigkeit überschritten, ja
die legitime Gesellschaft selbst an Bildung, Intelligenz und sozialer That¬
kraft so rasch zugenommen, daß ihr europäisches Wesen von den bestehenden
Gesetzen durch eiuen großen Jdeenranm getrennt ist."

Es wird nachgewiesen, wie der ungarische Adel, aus dem eigentlich
das Volk besteht, die beiden entgegengesetzten Sünden der Oligarchie und
Ochlokratie in sich vereinigt. Der hohe Adel habe sich indessen jetzt von
der nationalen Bewegung getrennt und sich dem Hofe angeschlossen.

„Ungarn war längere Zeit das Opfer seiner Eitelkeit und Illusionen,
und dennoch konnte die Regierung mit Gewißheit hoffen, dem Vertrauen
des Landes zu begegnen, wenn sie auf den Fleck geklopft, wo Ungarn zu¬
meist menschlich gesinnt gewesen. Die neue Regierung (1843) verschmähte
die alten Mittel, sie erkannte die Umgestaltung der Weltverhältnisse und
das Thauwetter in der mittelalterlichen Erstarrung ungarischer Lande. Dies¬
mal schlug sie einen Weg ein, der gerade zu deu eiternden Wunden des
Landes führte; denn die königlichen Propositionen bei Eröffnung des Reichs¬
tags waren, wenn auch in Halbdunkel gehüllt, nur der Ausdruck jener
großen neuen Partei, wie ihn die liberale Presse veröffentlichte. Die Ne¬
gierung war durch diese plötzliche Wendung Meister der Bewegung; sie
konnte sie leiten, denn sie hatte nichts gegen sich als die höhere Aristokra¬
tie. — Was that jedoch die Negierung? Statt jene Partei zu unterstützen,
die ihren Absichten freudigen Beifall zollte, die zumeist im nationalen Boden
wurzelt, die allem eine Zukunft hat, erschrak sie vor den organischen Schö¬
pfungen und dem freien Wesen der untern Kammer und ging zu den Mag¬
naten über. — Sie hatte weder den Muth uoch nachhaltigem Ernst, jene
Fragen durchzuführen, die sie selbst bevorwortet. — Es ist die Opposition
gewesen, die, selbst privilegirt und adelig, seit einigen Jahren den Kampf
gegen Privilegien und Adelsherrschaft, für neue europäische Gründungen,
für Nationalität und Gewissensfreiheit, gegen Regierung und hohe Aristo¬
kratie geführt; es ist die Opposition gewesen, welche die Fesseln des unga¬
rischen Bauernstandes uach Möglichkeit und nach hartem Streite mit Regie¬
rung und hoher Aristokratie gelockert; es ist die Opposition gewesen, die
sich des Volkes nur allein angenommen, die für dessen Freiheit, constitutio-
nelle Berechtigung im Sinne geregelter Ordnung, für ein freies Staats-


Gl'-nzlwtcn. I». 1847. K
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/71>, abgerufen am 28.07.2024.