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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Außerdem springt die Geschichte auch von dem Reichstag von 43, der tels
Centrum bildet, vorwärts und zurück und wieder vorwärts, und man ver¬
liert jeden Augenblick den Faden.

"Vor 25 Jahren, als ich das erstemal Ungarn besuchte, war dessen
Volk und Staatsleben ein ungekanntes Etwas, welchem selbst der einheimi¬
sche Staatsmann wenig Trostreiches weissagen konnte. Selbst die rohe Freiheit
einer zahlreichen adeligen Kaste mußte endlich als der einzige Zeuge einstiger
Unabhängigkeit sich der unvermeidlichen Alleinherrschaft einer europäischen
Macht fügen: denn schon seit geraumer Zeit hatte mau ihr die Gesetzgebung
entzogen, Apathie, Entsittuug, Corruption und Roheit herrschte überall;
ein einziger Streich mit nachhaltigem Ernst ausgeführt würde Alles, was
uoch Spuren ehemaliger Freiheit enthielt, vernichtet haben. -- Systema¬
tische Entsittigungspolitik und die Schäden eines potenzirten Cvlonialsystems
hat den Volkscharakter und Wohlstand in allen Verzweigungen und Einflüssen
untergraben. Jener Adel, der selbst nach dem Mittelalter im Gefühl seiner
Unabhängigkeit Trotz und Würde zeigte, war hofdienerisch und feige ge¬
worden. In dem politischen Patrimonialgnt des Adels "der Verfassung"
war das Meiste verödet, zerrissen, ohne wirkliche Bürgschaft, ohne frischen
Bildungsstoff; mit krüppelhastcr Bewegung erhob sich mühsam der bessere
Geist in dem eng eingefriedigten Comitatsleben, dem letzten Nest öffentlicher
Thätigkeit. Die Gesellschaft war durch Sprache, Bevorrechtigung und Glie¬
derung in kleinen Einheiten zerklüftet; die Interessen durch mittelalterliche
Rechtsformen streug geschieden, nirgend ein Haltpunkt, eine Vereinigung:
es war der Zustand nach einem totalen Ausbruch, welchen eine fehlerhafte
Politik unempfänglich für den Fortschritt der Jahrhunderte herbeigeführt.
Sprache, Gesinnung und Interessen lagen zerstreut umher, wie Steine,
Gerölle und Erdwerk nach einem physischen Ausbruch." --

"Das Signal zu ganz neuen Kämpfen für Ungarn gab der Reichstag
von 1843. -- Ungarn hat noch nicht das große Fieber überstanden, welches
man Uebergangsepoche nennt: in welcher altes und neues Wesen friedlich
oder gewaltlich in der Gegenwart um die Zukunft kämpfen. -- Wer tiefer
in jene trostlosen Zustände eingedrungen, die man durch schlechte, ja sogar
feindliche Verwaltung und erschlafften Volksgeist beim Beginn der neuen
Periode aufgehäuft gesehen, wer es erfahren, welche Mühe es erforderte,
die Staatspraxis des 18. Jahrhunderts nur an die Theorie des 19. zu ge¬
wöhnen, wer alle Fuchslöcher, Wendungen und Durchgänge eines sich selbst
reformirenden Feudalstaats kennt, wo das alte Regime mit verschrobenen
Meinungen und seinem Hochmuth des Nichts keine Augen im Nacken braucht,


Außerdem springt die Geschichte auch von dem Reichstag von 43, der tels
Centrum bildet, vorwärts und zurück und wieder vorwärts, und man ver¬
liert jeden Augenblick den Faden.

„Vor 25 Jahren, als ich das erstemal Ungarn besuchte, war dessen
Volk und Staatsleben ein ungekanntes Etwas, welchem selbst der einheimi¬
sche Staatsmann wenig Trostreiches weissagen konnte. Selbst die rohe Freiheit
einer zahlreichen adeligen Kaste mußte endlich als der einzige Zeuge einstiger
Unabhängigkeit sich der unvermeidlichen Alleinherrschaft einer europäischen
Macht fügen: denn schon seit geraumer Zeit hatte mau ihr die Gesetzgebung
entzogen, Apathie, Entsittuug, Corruption und Roheit herrschte überall;
ein einziger Streich mit nachhaltigem Ernst ausgeführt würde Alles, was
uoch Spuren ehemaliger Freiheit enthielt, vernichtet haben. — Systema¬
tische Entsittigungspolitik und die Schäden eines potenzirten Cvlonialsystems
hat den Volkscharakter und Wohlstand in allen Verzweigungen und Einflüssen
untergraben. Jener Adel, der selbst nach dem Mittelalter im Gefühl seiner
Unabhängigkeit Trotz und Würde zeigte, war hofdienerisch und feige ge¬
worden. In dem politischen Patrimonialgnt des Adels „der Verfassung"
war das Meiste verödet, zerrissen, ohne wirkliche Bürgschaft, ohne frischen
Bildungsstoff; mit krüppelhastcr Bewegung erhob sich mühsam der bessere
Geist in dem eng eingefriedigten Comitatsleben, dem letzten Nest öffentlicher
Thätigkeit. Die Gesellschaft war durch Sprache, Bevorrechtigung und Glie¬
derung in kleinen Einheiten zerklüftet; die Interessen durch mittelalterliche
Rechtsformen streug geschieden, nirgend ein Haltpunkt, eine Vereinigung:
es war der Zustand nach einem totalen Ausbruch, welchen eine fehlerhafte
Politik unempfänglich für den Fortschritt der Jahrhunderte herbeigeführt.
Sprache, Gesinnung und Interessen lagen zerstreut umher, wie Steine,
Gerölle und Erdwerk nach einem physischen Ausbruch." —

„Das Signal zu ganz neuen Kämpfen für Ungarn gab der Reichstag
von 1843. — Ungarn hat noch nicht das große Fieber überstanden, welches
man Uebergangsepoche nennt: in welcher altes und neues Wesen friedlich
oder gewaltlich in der Gegenwart um die Zukunft kämpfen. — Wer tiefer
in jene trostlosen Zustände eingedrungen, die man durch schlechte, ja sogar
feindliche Verwaltung und erschlafften Volksgeist beim Beginn der neuen
Periode aufgehäuft gesehen, wer es erfahren, welche Mühe es erforderte,
die Staatspraxis des 18. Jahrhunderts nur an die Theorie des 19. zu ge¬
wöhnen, wer alle Fuchslöcher, Wendungen und Durchgänge eines sich selbst
reformirenden Feudalstaats kennt, wo das alte Regime mit verschrobenen
Meinungen und seinem Hochmuth des Nichts keine Augen im Nacken braucht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/70>, abgerufen am 01.09.2024.