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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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daß es die Acten über den letzten Landtag wären. O, erwiderte sie, es ist wohl
lächerlich, in Rußland einen Landtag zu halten.

Fürwahr sehr naiv, - und sehr richtig! Es ist wohl nöthig, daß man nach
wie vor in üblicher Weise Landtage hält, aber man verweise von diesem Präsen-
tirteller der Oeffentlichkeit alle wichtigen auf Idee und Princip bezüglichen Ange¬
legenheiten in die Einsamkeit des Landes und versuche unter der Hand das
auszuführen, was man auf öffentlichem Wege am wenigsten erreichen wird.

Ganz gewiß, bei der Frage, ob es besser sei, daß die lettische Nationalität
in's Deutschthum oder in's Russenthum umgewandelt werde, entscheiden wir uns
für ersteres.

Das verhindert uns aber nicht, noch einen andern Standpunkt festzuhalten,
der weiter keinen Fehler hat, als daß er über der Zeit steht.

Von ihm herab behaupten wir: es wäre am besten, wenn die lettische Volks-
thümlichkeit als solche bestände, und mit allen der menschlichen Natur verliehenen
Kräften sich aus sich selber entfaltete.

Und dazu hat sie ein vollkommnes Recht. Denn das Volk stammt nicht erst
von gestern her und ist nicht aufs Gerathewohl zusammengewürfelt. Seine Ei¬
genthümlichkeit ist beschlossen innerhalb der Grenzen einer bestimmten Sprache, die
urkundlich aus der Tiefe der Jahrhunderte der Neuzeit überliefert wurde.

Demnach ist kein irgend erdenklicher Grund vorhanden, dasselbe auf dem Ver"
zeichniß der Nationalitäten auszustreichen.

Wie wird es einer Centifolie gelingen, mit ihrem hundert- oder tausend-
blättrigen Kelche ein Moosblümlein zu absorbiren.

Die Unschuld und Gerechtigkeit der Natur, welche statt zu zwingen gewäh¬
ren läßt, sei der Spiegel, worin sich die Reflexionen der selbstsüchtigen Mensch¬
heit verständigen und vereinfachen.

Wie roh und widerlich klingen mir daher solche Sätze, wie sie ein russificir-
ter, deutscher Professor an der Ritterakademie zu Reval schrieb: "das Culturvolk
hat gegen das Nacevolk immer Recht, wenn auch die Einzelnen im Conflicte
noch so unverantwortlich handeln, und sogenanntes Mitleid mit den seehuudsmäßig
stinkenden Rothhäuten ist mir die albernste Sentimentalität."

Es ist nur eine Phantasie, aber wir denken uns so gern eine Nation, welche
stark, frei und gerecht der Brudernation in so fern beispringt, als sie mit den Kei¬
men der Bildung, welche der Hauch der Sympathie von dem Wipfel seines Natio¬
nalstammes wehte, das nackte Eiland befruchtet, das inmitten ungeordneter Be¬
wegungen stand, eine Nation, die den Griffel unterstützt, womit der Geist auf die
tabula rasa des Volksthums zeichnet, ohne daß jene in eigenmächtiger Weise sich
herausnimmt, ihre Schrift als entlehnte der Originalurkunde unterzuschieben.

Wo in der Gegenwart finden wir diese Nation? -- Nirgends.

Noch bestehn die alten Sprung- und Occupirnngsverhältnisse, jene macchiavel-


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daß es die Acten über den letzten Landtag wären. O, erwiderte sie, es ist wohl
lächerlich, in Rußland einen Landtag zu halten.

Fürwahr sehr naiv, - und sehr richtig! Es ist wohl nöthig, daß man nach
wie vor in üblicher Weise Landtage hält, aber man verweise von diesem Präsen-
tirteller der Oeffentlichkeit alle wichtigen auf Idee und Princip bezüglichen Ange¬
legenheiten in die Einsamkeit des Landes und versuche unter der Hand das
auszuführen, was man auf öffentlichem Wege am wenigsten erreichen wird.

Ganz gewiß, bei der Frage, ob es besser sei, daß die lettische Nationalität
in's Deutschthum oder in's Russenthum umgewandelt werde, entscheiden wir uns
für ersteres.

Das verhindert uns aber nicht, noch einen andern Standpunkt festzuhalten,
der weiter keinen Fehler hat, als daß er über der Zeit steht.

Von ihm herab behaupten wir: es wäre am besten, wenn die lettische Volks-
thümlichkeit als solche bestände, und mit allen der menschlichen Natur verliehenen
Kräften sich aus sich selber entfaltete.

Und dazu hat sie ein vollkommnes Recht. Denn das Volk stammt nicht erst
von gestern her und ist nicht aufs Gerathewohl zusammengewürfelt. Seine Ei¬
genthümlichkeit ist beschlossen innerhalb der Grenzen einer bestimmten Sprache, die
urkundlich aus der Tiefe der Jahrhunderte der Neuzeit überliefert wurde.

Demnach ist kein irgend erdenklicher Grund vorhanden, dasselbe auf dem Ver»
zeichniß der Nationalitäten auszustreichen.

Wie wird es einer Centifolie gelingen, mit ihrem hundert- oder tausend-
blättrigen Kelche ein Moosblümlein zu absorbiren.

Die Unschuld und Gerechtigkeit der Natur, welche statt zu zwingen gewäh¬
ren läßt, sei der Spiegel, worin sich die Reflexionen der selbstsüchtigen Mensch¬
heit verständigen und vereinfachen.

Wie roh und widerlich klingen mir daher solche Sätze, wie sie ein russificir-
ter, deutscher Professor an der Ritterakademie zu Reval schrieb: „das Culturvolk
hat gegen das Nacevolk immer Recht, wenn auch die Einzelnen im Conflicte
noch so unverantwortlich handeln, und sogenanntes Mitleid mit den seehuudsmäßig
stinkenden Rothhäuten ist mir die albernste Sentimentalität."

Es ist nur eine Phantasie, aber wir denken uns so gern eine Nation, welche
stark, frei und gerecht der Brudernation in so fern beispringt, als sie mit den Kei¬
men der Bildung, welche der Hauch der Sympathie von dem Wipfel seines Natio¬
nalstammes wehte, das nackte Eiland befruchtet, das inmitten ungeordneter Be¬
wegungen stand, eine Nation, die den Griffel unterstützt, womit der Geist auf die
tabula rasa des Volksthums zeichnet, ohne daß jene in eigenmächtiger Weise sich
herausnimmt, ihre Schrift als entlehnte der Originalurkunde unterzuschieben.

Wo in der Gegenwart finden wir diese Nation? — Nirgends.

Noch bestehn die alten Sprung- und Occupirnngsverhältnisse, jene macchiavel-


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[0563] daß es die Acten über den letzten Landtag wären. O, erwiderte sie, es ist wohl lächerlich, in Rußland einen Landtag zu halten. Fürwahr sehr naiv, - und sehr richtig! Es ist wohl nöthig, daß man nach wie vor in üblicher Weise Landtage hält, aber man verweise von diesem Präsen- tirteller der Oeffentlichkeit alle wichtigen auf Idee und Princip bezüglichen Ange¬ legenheiten in die Einsamkeit des Landes und versuche unter der Hand das auszuführen, was man auf öffentlichem Wege am wenigsten erreichen wird. Ganz gewiß, bei der Frage, ob es besser sei, daß die lettische Nationalität in's Deutschthum oder in's Russenthum umgewandelt werde, entscheiden wir uns für ersteres. Das verhindert uns aber nicht, noch einen andern Standpunkt festzuhalten, der weiter keinen Fehler hat, als daß er über der Zeit steht. Von ihm herab behaupten wir: es wäre am besten, wenn die lettische Volks- thümlichkeit als solche bestände, und mit allen der menschlichen Natur verliehenen Kräften sich aus sich selber entfaltete. Und dazu hat sie ein vollkommnes Recht. Denn das Volk stammt nicht erst von gestern her und ist nicht aufs Gerathewohl zusammengewürfelt. Seine Ei¬ genthümlichkeit ist beschlossen innerhalb der Grenzen einer bestimmten Sprache, die urkundlich aus der Tiefe der Jahrhunderte der Neuzeit überliefert wurde. Demnach ist kein irgend erdenklicher Grund vorhanden, dasselbe auf dem Ver» zeichniß der Nationalitäten auszustreichen. Wie wird es einer Centifolie gelingen, mit ihrem hundert- oder tausend- blättrigen Kelche ein Moosblümlein zu absorbiren. Die Unschuld und Gerechtigkeit der Natur, welche statt zu zwingen gewäh¬ ren läßt, sei der Spiegel, worin sich die Reflexionen der selbstsüchtigen Mensch¬ heit verständigen und vereinfachen. Wie roh und widerlich klingen mir daher solche Sätze, wie sie ein russificir- ter, deutscher Professor an der Ritterakademie zu Reval schrieb: „das Culturvolk hat gegen das Nacevolk immer Recht, wenn auch die Einzelnen im Conflicte noch so unverantwortlich handeln, und sogenanntes Mitleid mit den seehuudsmäßig stinkenden Rothhäuten ist mir die albernste Sentimentalität." Es ist nur eine Phantasie, aber wir denken uns so gern eine Nation, welche stark, frei und gerecht der Brudernation in so fern beispringt, als sie mit den Kei¬ men der Bildung, welche der Hauch der Sympathie von dem Wipfel seines Natio¬ nalstammes wehte, das nackte Eiland befruchtet, das inmitten ungeordneter Be¬ wegungen stand, eine Nation, die den Griffel unterstützt, womit der Geist auf die tabula rasa des Volksthums zeichnet, ohne daß jene in eigenmächtiger Weise sich herausnimmt, ihre Schrift als entlehnte der Originalurkunde unterzuschieben. Wo in der Gegenwart finden wir diese Nation? — Nirgends. Noch bestehn die alten Sprung- und Occupirnngsverhältnisse, jene macchiavel- Gvmzbvttn. I». !S47. 7Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/563>, abgerufen am 01.09.2024.