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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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und dem draußen harrenden Volke vordictiren, worauf sie dann wohlgemut!) wie¬
der hinter ihr Lorüns M-is zurückwandern, oder in ihren Familicnzirkel oder in
irgend eine Restauration hinein. Dort aber weilt der Richter unter dem Volke,
denn er ist aus dem Volke entsprungen und haftet mit alleu Wurzeln darin. Er
kennt die Noth seines Sprach-, Sitten- und Gewohnheitsgcnosseu, weil er sie
mehr oder weniger an sich selber erlebte. Er schöpft sein Recht aus der Unmit¬
telbarkeit der Anschauung, der Erfahrung, der Mitleidenschaft. Die Quellen,
welche hier fließen, sind nicht durch die Blätter eines dickleibigen Buches mühsam
filtrirt, sie entspringen ans der Frische des Herzens, die sich mit unmittelbarem
Pulsschlag dem Kopfe mittheilt.

Genug! wir begrüßen diese ursprünglich germanische Verfassung, mag sie hier
in dem Gehirne eines Russen oder eines Deutschen entsprungen sein, als einen
anzuerkennenden Beweis von Humanität und Menschenachtung. Ja, wir wollen
diese Sache einmal rein für sich und außer dem Bereiche der Reflexion bestehen
lassen, ohne die Motive zu untersuchen, welche deu Stifter dabei leiteten. Wir
bemerken nur in Beziehung auf das große Ganze, daß man bei diesem durch das
Gesetz begründeten Gcmeindegerichte hätte Posto fassen können, um so von der
Wurzel her den weit hergeholten bureaukratischen Uebergriffen zur Entmttionalisi-
rnng und Auslöschung provinzieller Eigenthümlichkeit kräftig entgegenzuarbeiten.

Dazu aber waren zwei Dinge erforderlich, erstlich für den Bauern die Mög¬
lichkeit, Grundbesitz zu erwerben und zweitens von Seiten des das Gemeindegericht
überwachenden Gutsherrn die allergrößte Gerechtigkeit.

In rein bäuerlichen Verhältnissen, die mit den Interessen des Gutsherrn
nicht in Streit gerathen, wird sich das Gcmeindcgericht immer bewähren können.

Anders aber verhält sich die Sache, wenn der Gutsherr bei etwaigen Strei¬
tigkeiten unter Bauern seines Gebietes Veranlassung nimmt, die eine Partei aus
irgend welchem Grnnde auf Kosten des Rechtes zu begünstigen. Der Gerichts¬
beisitzer ist eben nur ein Bauer wie die andern, d. h. arm und besitzlos. Der
Gutsherr braucht ihm daher nur das Ende einer großen Metwnrft zu zeigen, und
was geschieht? Der Beisitzer berechnet nach dieser conpirten Sphäre die unbe¬
kannte, aber jedenfalls ausgefüllte X-Parabel des von der Tasche verhüllten
Wurstkörpers und wird, verlockt von diesem ahnungsvollen Lockköder, ganz sicher¬
lich von dem Wege des Rechtes abweichen.

Der Leite, auf der niedrigen Stufe seiner Bildung, kann von der formenden
Hand schnell diese oder jene Gestalt annehmen, seine Nationalität ist gleichsam
eine tabula rasa, in die sich nach Art der Kindernatnren eben so schnell gute als
böse Züge einprägen, so daß sie raschere Bildungen durchläuft, als bereits fest
ausgesprochene Völkercharaktere, die in dem Systeme eiues nach allen Seiten aus¬
gearbeiteten Staatslebens, ich will nicht sagen befangen, aber doch abgeschlos¬
sen sind.


und dem draußen harrenden Volke vordictiren, worauf sie dann wohlgemut!) wie¬
der hinter ihr Lorüns M-is zurückwandern, oder in ihren Familicnzirkel oder in
irgend eine Restauration hinein. Dort aber weilt der Richter unter dem Volke,
denn er ist aus dem Volke entsprungen und haftet mit alleu Wurzeln darin. Er
kennt die Noth seines Sprach-, Sitten- und Gewohnheitsgcnosseu, weil er sie
mehr oder weniger an sich selber erlebte. Er schöpft sein Recht aus der Unmit¬
telbarkeit der Anschauung, der Erfahrung, der Mitleidenschaft. Die Quellen,
welche hier fließen, sind nicht durch die Blätter eines dickleibigen Buches mühsam
filtrirt, sie entspringen ans der Frische des Herzens, die sich mit unmittelbarem
Pulsschlag dem Kopfe mittheilt.

Genug! wir begrüßen diese ursprünglich germanische Verfassung, mag sie hier
in dem Gehirne eines Russen oder eines Deutschen entsprungen sein, als einen
anzuerkennenden Beweis von Humanität und Menschenachtung. Ja, wir wollen
diese Sache einmal rein für sich und außer dem Bereiche der Reflexion bestehen
lassen, ohne die Motive zu untersuchen, welche deu Stifter dabei leiteten. Wir
bemerken nur in Beziehung auf das große Ganze, daß man bei diesem durch das
Gesetz begründeten Gcmeindegerichte hätte Posto fassen können, um so von der
Wurzel her den weit hergeholten bureaukratischen Uebergriffen zur Entmttionalisi-
rnng und Auslöschung provinzieller Eigenthümlichkeit kräftig entgegenzuarbeiten.

Dazu aber waren zwei Dinge erforderlich, erstlich für den Bauern die Mög¬
lichkeit, Grundbesitz zu erwerben und zweitens von Seiten des das Gemeindegericht
überwachenden Gutsherrn die allergrößte Gerechtigkeit.

In rein bäuerlichen Verhältnissen, die mit den Interessen des Gutsherrn
nicht in Streit gerathen, wird sich das Gcmeindcgericht immer bewähren können.

Anders aber verhält sich die Sache, wenn der Gutsherr bei etwaigen Strei¬
tigkeiten unter Bauern seines Gebietes Veranlassung nimmt, die eine Partei aus
irgend welchem Grnnde auf Kosten des Rechtes zu begünstigen. Der Gerichts¬
beisitzer ist eben nur ein Bauer wie die andern, d. h. arm und besitzlos. Der
Gutsherr braucht ihm daher nur das Ende einer großen Metwnrft zu zeigen, und
was geschieht? Der Beisitzer berechnet nach dieser conpirten Sphäre die unbe¬
kannte, aber jedenfalls ausgefüllte X-Parabel des von der Tasche verhüllten
Wurstkörpers und wird, verlockt von diesem ahnungsvollen Lockköder, ganz sicher¬
lich von dem Wege des Rechtes abweichen.

Der Leite, auf der niedrigen Stufe seiner Bildung, kann von der formenden
Hand schnell diese oder jene Gestalt annehmen, seine Nationalität ist gleichsam
eine tabula rasa, in die sich nach Art der Kindernatnren eben so schnell gute als
böse Züge einprägen, so daß sie raschere Bildungen durchläuft, als bereits fest
ausgesprochene Völkercharaktere, die in dem Systeme eiues nach allen Seiten aus¬
gearbeiteten Staatslebens, ich will nicht sagen befangen, aber doch abgeschlos¬
sen sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/558>, abgerufen am 28.07.2024.