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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Die katholische Geistlichkeit stemmt sich nicht zu gewaltig gegen die Entwicke¬
lung der evangelischen Kirche in Ungarn. Sie hätte es da mit energischen Geg¬
nern zu thun, und will darum keinen allzu heißen Kampf beginnen, in der Furcht,
daß die Butter auf ihrem Kopfe schmelzen könnte. Die Gegner könnten eines Ta¬
ges die Krippe, aus der sie sich nährt, gar zu groß finden; sie faßt nämlich
mäßig gerechnet den vierten Theil des ungarischen Bodens, während die evange¬
lische Kirche und Geistlichkeit von ihren Gemeinden mager genug erhalten werden.

Um so herrlicher glänzt die große Wohlthätigkeit der Pesther Frauen, als sie
aus reinem Herzeustricbe entspringt und nicht dnrch das Drängen besoldeter Got¬
tesdiener erzeugt wird. Es besteht in Pesth ein Frauenverein, den zahlreiche
Mitglieder aus allen Ständen bilden und an dessen Spitze die vornehmsten Damen
der Stadt stehen. Die edelsten Frauen steigen hinab in die Wohnungen des
Elends, in dumpfe Locher unter der Erde, und verbinden mit zarter Hand die
Wunde, die ein grausames Geschick fortwährend der Menschheit schlägt. Großes
haben sie geleistet in dem letzten Hungerjahr. Außer ihren gewöhnlichen Thaten
für die Armuth, ließen sie noch auf fünf Orten der Stadt dreimal die Woche
warme Speise an jeden Hungrigen ohne Unterschied vertheilen, und errichteten
einen großen Schlafsaal, wo Unglückliche Obdach und Wärme fanden. Und diese
Gaben werden beinahe mit derselben jugendlichen Anmuth und freudigen Herzlich¬
keit ertheilt, wie der warme Händedruck und die süßen Küsse, die man dem Ge¬
liebten spendet.

Die vielfache Bewegung außer dem Hanse läßt der Pestherin wenig Zeit und
Muße ihre schönen Augen durch Lesen zu verderben. Langathmige Romane und
unterrichtende Bücher sind für sie nicht geschrieben. Sie würde wie jene Spar¬
taner sagen: "In der Mitte habe ich den Anfang und am Ende die Mitte ver¬
gessen." Die Literatur muß ihr Kleinigkeiten liefern, die bei einem gewissen un¬
mittelbaren Interesse nicht zu viel Anstrengung fordern und keine kostbare Zeit
rauben. Diesem Umstand verdankt die Pesther Zeitschrift "der Ungar" ihr großes
Glück. Der Redacteur kennt genau seinen Boden; er läßt sein Blatt in einer
täglichen Nummer vou einem halben Bogen erscheinen und füllt es mit tausend
leichtfertigen Sächelchen. Man findet da pikante Berichte über die gestrigen Vor¬
stellungen in allen drei Theatern, recht nett geschriebene Briefe ans Wien, Nach¬
richten aus allen Theilen Ungarns, drastische Notizen über die hervorstechendsten
Weltereignisse, markirte Noveletten, und was das Wichtigste und Gesuchteste, die
neuesten Neuigkeiten der Stadt und der nächsten 'Umgebung. Kein Polizeimann
berichtet getreuer und sorgfältiger alle Raufereien, Diebstähle, Skandale und son¬
stigen Vorgänge si den beiden Donaustädten als die Rubrik: "der Neuigkeitsbote"
des "Ungar" es dem Leser erzählt. Das scherzhafte oder satyrische Gewand, in
welche diese Siebensachen gekleidet sind, erhöhen noch den Reiz der unersättlichen
Neugierde, welche der Pesther zu dieser Lectüre mitbringt. Durch diese Mittel


Die katholische Geistlichkeit stemmt sich nicht zu gewaltig gegen die Entwicke¬
lung der evangelischen Kirche in Ungarn. Sie hätte es da mit energischen Geg¬
nern zu thun, und will darum keinen allzu heißen Kampf beginnen, in der Furcht,
daß die Butter auf ihrem Kopfe schmelzen könnte. Die Gegner könnten eines Ta¬
ges die Krippe, aus der sie sich nährt, gar zu groß finden; sie faßt nämlich
mäßig gerechnet den vierten Theil des ungarischen Bodens, während die evange¬
lische Kirche und Geistlichkeit von ihren Gemeinden mager genug erhalten werden.

Um so herrlicher glänzt die große Wohlthätigkeit der Pesther Frauen, als sie
aus reinem Herzeustricbe entspringt und nicht dnrch das Drängen besoldeter Got¬
tesdiener erzeugt wird. Es besteht in Pesth ein Frauenverein, den zahlreiche
Mitglieder aus allen Ständen bilden und an dessen Spitze die vornehmsten Damen
der Stadt stehen. Die edelsten Frauen steigen hinab in die Wohnungen des
Elends, in dumpfe Locher unter der Erde, und verbinden mit zarter Hand die
Wunde, die ein grausames Geschick fortwährend der Menschheit schlägt. Großes
haben sie geleistet in dem letzten Hungerjahr. Außer ihren gewöhnlichen Thaten
für die Armuth, ließen sie noch auf fünf Orten der Stadt dreimal die Woche
warme Speise an jeden Hungrigen ohne Unterschied vertheilen, und errichteten
einen großen Schlafsaal, wo Unglückliche Obdach und Wärme fanden. Und diese
Gaben werden beinahe mit derselben jugendlichen Anmuth und freudigen Herzlich¬
keit ertheilt, wie der warme Händedruck und die süßen Küsse, die man dem Ge¬
liebten spendet.

Die vielfache Bewegung außer dem Hanse läßt der Pestherin wenig Zeit und
Muße ihre schönen Augen durch Lesen zu verderben. Langathmige Romane und
unterrichtende Bücher sind für sie nicht geschrieben. Sie würde wie jene Spar¬
taner sagen: „In der Mitte habe ich den Anfang und am Ende die Mitte ver¬
gessen." Die Literatur muß ihr Kleinigkeiten liefern, die bei einem gewissen un¬
mittelbaren Interesse nicht zu viel Anstrengung fordern und keine kostbare Zeit
rauben. Diesem Umstand verdankt die Pesther Zeitschrift „der Ungar" ihr großes
Glück. Der Redacteur kennt genau seinen Boden; er läßt sein Blatt in einer
täglichen Nummer vou einem halben Bogen erscheinen und füllt es mit tausend
leichtfertigen Sächelchen. Man findet da pikante Berichte über die gestrigen Vor¬
stellungen in allen drei Theatern, recht nett geschriebene Briefe ans Wien, Nach¬
richten aus allen Theilen Ungarns, drastische Notizen über die hervorstechendsten
Weltereignisse, markirte Noveletten, und was das Wichtigste und Gesuchteste, die
neuesten Neuigkeiten der Stadt und der nächsten 'Umgebung. Kein Polizeimann
berichtet getreuer und sorgfältiger alle Raufereien, Diebstähle, Skandale und son¬
stigen Vorgänge si den beiden Donaustädten als die Rubrik: „der Neuigkeitsbote"
des „Ungar" es dem Leser erzählt. Das scherzhafte oder satyrische Gewand, in
welche diese Siebensachen gekleidet sind, erhöhen noch den Reiz der unersättlichen
Neugierde, welche der Pesther zu dieser Lectüre mitbringt. Durch diese Mittel


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[0514] Die katholische Geistlichkeit stemmt sich nicht zu gewaltig gegen die Entwicke¬ lung der evangelischen Kirche in Ungarn. Sie hätte es da mit energischen Geg¬ nern zu thun, und will darum keinen allzu heißen Kampf beginnen, in der Furcht, daß die Butter auf ihrem Kopfe schmelzen könnte. Die Gegner könnten eines Ta¬ ges die Krippe, aus der sie sich nährt, gar zu groß finden; sie faßt nämlich mäßig gerechnet den vierten Theil des ungarischen Bodens, während die evange¬ lische Kirche und Geistlichkeit von ihren Gemeinden mager genug erhalten werden. Um so herrlicher glänzt die große Wohlthätigkeit der Pesther Frauen, als sie aus reinem Herzeustricbe entspringt und nicht dnrch das Drängen besoldeter Got¬ tesdiener erzeugt wird. Es besteht in Pesth ein Frauenverein, den zahlreiche Mitglieder aus allen Ständen bilden und an dessen Spitze die vornehmsten Damen der Stadt stehen. Die edelsten Frauen steigen hinab in die Wohnungen des Elends, in dumpfe Locher unter der Erde, und verbinden mit zarter Hand die Wunde, die ein grausames Geschick fortwährend der Menschheit schlägt. Großes haben sie geleistet in dem letzten Hungerjahr. Außer ihren gewöhnlichen Thaten für die Armuth, ließen sie noch auf fünf Orten der Stadt dreimal die Woche warme Speise an jeden Hungrigen ohne Unterschied vertheilen, und errichteten einen großen Schlafsaal, wo Unglückliche Obdach und Wärme fanden. Und diese Gaben werden beinahe mit derselben jugendlichen Anmuth und freudigen Herzlich¬ keit ertheilt, wie der warme Händedruck und die süßen Küsse, die man dem Ge¬ liebten spendet. Die vielfache Bewegung außer dem Hanse läßt der Pestherin wenig Zeit und Muße ihre schönen Augen durch Lesen zu verderben. Langathmige Romane und unterrichtende Bücher sind für sie nicht geschrieben. Sie würde wie jene Spar¬ taner sagen: „In der Mitte habe ich den Anfang und am Ende die Mitte ver¬ gessen." Die Literatur muß ihr Kleinigkeiten liefern, die bei einem gewissen un¬ mittelbaren Interesse nicht zu viel Anstrengung fordern und keine kostbare Zeit rauben. Diesem Umstand verdankt die Pesther Zeitschrift „der Ungar" ihr großes Glück. Der Redacteur kennt genau seinen Boden; er läßt sein Blatt in einer täglichen Nummer vou einem halben Bogen erscheinen und füllt es mit tausend leichtfertigen Sächelchen. Man findet da pikante Berichte über die gestrigen Vor¬ stellungen in allen drei Theatern, recht nett geschriebene Briefe ans Wien, Nach¬ richten aus allen Theilen Ungarns, drastische Notizen über die hervorstechendsten Weltereignisse, markirte Noveletten, und was das Wichtigste und Gesuchteste, die neuesten Neuigkeiten der Stadt und der nächsten 'Umgebung. Kein Polizeimann berichtet getreuer und sorgfältiger alle Raufereien, Diebstähle, Skandale und son¬ stigen Vorgänge si den beiden Donaustädten als die Rubrik: „der Neuigkeitsbote" des „Ungar" es dem Leser erzählt. Das scherzhafte oder satyrische Gewand, in welche diese Siebensachen gekleidet sind, erhöhen noch den Reiz der unersättlichen Neugierde, welche der Pesther zu dieser Lectüre mitbringt. Durch diese Mittel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/514>, abgerufen am 01.09.2024.