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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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er ab." Stahr dagegen wird vorzüglich nur durch das Unästhetische des
Bettelwesens beleidigt.

Aber Stahr ist kein Aesthetiker von reinem Wasser, kein Kunstmensch
an und für sich; sein Verstand läuft niemals mit der Phantasie davon. --
"Wer in Italien katholisch wird, ist schwachen Verstandes oder ein Schelm.
Ich meinestheils bin nicht Romantiker genug, um ein anderes als das Ge¬
fühl tiefster Trauer zu empfinden, wenn ich die arme Masse unverstandene,
lateinische Gebete einem vorplärrcnden Pfaffen stundenlang nachplärren höre."

Um so empfänglicher ist er aber auch, wie der wahrhaft Gebildete über¬
haupt, für das Ursprüngliche und Natürliche in fremden Zuständen. "Ich
bin kein romantischer Enthusiast für italienische Volkszustände, aber ich sehe
bis jetzt täglich mehr Gutes, als ich uach dein Geschrei so vieler deutscheu
Michel hier erwartet habe. Es ist ein unverwüstlicher Kern in diesem Volk,
der es trotz des elendesten Regiments, das auf seinem Nacken nun schon seit
Jahrhunderten lastet, niemals völlig zu Grunde gehen ließ. Denke dir ein
Volk ohne alle Erziehung, mit einer Religion, die in barokstes Heidenthum
verknüpft, den tollsten Aberglauben befördert, mit einer Verwaltung, die es
methodisch aussaugt, die jeden Ansatz zu einem Fortschritt unterdrückt, jeden
Aufschwung der Industrie alsbald in Fesseln schlägt, denke dir das Volk in
einem Theile seiner höhern Klassen verwirrt durch zu frühe, gewaltthätige
Cultur- und Befreiuttgsversuche, durch Ansichten und Ideen, denen die po¬
sitiven Grundlagen und Voraussetzungen theoretischer Bildung fehlten, ver¬
derbt endlich durch die Tausende von fremden Besuchern, welche es zum Theil
mißhandeln, oder durch Verschwendung aufreizen, und im Verein mit deu
taufenden ehrloser Pfaffen und Mönche dnrch raffinirte Sittenlosigkeit in
seinem edelsten Theil, dem weiblichen Geschlecht, demoralisiren: und dn wirst
mit mir nur um so mehr den Fonds von Güte und liebenswürdiger Mensch¬
lichkeit bewundern, den sich dies Volk dennoch in seinem ganzen Wesen und
BeHaben bewahrt hat."

Ihrer ganzen Bildung nach läßt sich schon erwarten, daß Stahr mehr
bei der Kunst verweilt, Willkomm mehr im Volksleben, wenn auch beides
nicht von einander zu trennen ist.

Stahr's Kunstnrtheile zeugen wenigstens stets von einem klaren Auge,
und sind zierlich geschrieben. "Es ist ein prächtiger Mensch, dieser Meister
Tizian. In der Sinnlichkeit und ihrer schönheitsvvllen Wirklichkeit ist ihm
so wohl, daß selbst seine Magdalena, die Büßerin, ihm unter der Hand zu
ganz etwas Anderem wird. Dies volle, von üppigem Leben blühende Weib,
das den Welleusturz der Locken mit der Rechten über der Brust, und mit


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er ab." Stahr dagegen wird vorzüglich nur durch das Unästhetische des
Bettelwesens beleidigt.

Aber Stahr ist kein Aesthetiker von reinem Wasser, kein Kunstmensch
an und für sich; sein Verstand läuft niemals mit der Phantasie davon. —
„Wer in Italien katholisch wird, ist schwachen Verstandes oder ein Schelm.
Ich meinestheils bin nicht Romantiker genug, um ein anderes als das Ge¬
fühl tiefster Trauer zu empfinden, wenn ich die arme Masse unverstandene,
lateinische Gebete einem vorplärrcnden Pfaffen stundenlang nachplärren höre."

Um so empfänglicher ist er aber auch, wie der wahrhaft Gebildete über¬
haupt, für das Ursprüngliche und Natürliche in fremden Zuständen. „Ich
bin kein romantischer Enthusiast für italienische Volkszustände, aber ich sehe
bis jetzt täglich mehr Gutes, als ich uach dein Geschrei so vieler deutscheu
Michel hier erwartet habe. Es ist ein unverwüstlicher Kern in diesem Volk,
der es trotz des elendesten Regiments, das auf seinem Nacken nun schon seit
Jahrhunderten lastet, niemals völlig zu Grunde gehen ließ. Denke dir ein
Volk ohne alle Erziehung, mit einer Religion, die in barokstes Heidenthum
verknüpft, den tollsten Aberglauben befördert, mit einer Verwaltung, die es
methodisch aussaugt, die jeden Ansatz zu einem Fortschritt unterdrückt, jeden
Aufschwung der Industrie alsbald in Fesseln schlägt, denke dir das Volk in
einem Theile seiner höhern Klassen verwirrt durch zu frühe, gewaltthätige
Cultur- und Befreiuttgsversuche, durch Ansichten und Ideen, denen die po¬
sitiven Grundlagen und Voraussetzungen theoretischer Bildung fehlten, ver¬
derbt endlich durch die Tausende von fremden Besuchern, welche es zum Theil
mißhandeln, oder durch Verschwendung aufreizen, und im Verein mit deu
taufenden ehrloser Pfaffen und Mönche dnrch raffinirte Sittenlosigkeit in
seinem edelsten Theil, dem weiblichen Geschlecht, demoralisiren: und dn wirst
mit mir nur um so mehr den Fonds von Güte und liebenswürdiger Mensch¬
lichkeit bewundern, den sich dies Volk dennoch in seinem ganzen Wesen und
BeHaben bewahrt hat."

Ihrer ganzen Bildung nach läßt sich schon erwarten, daß Stahr mehr
bei der Kunst verweilt, Willkomm mehr im Volksleben, wenn auch beides
nicht von einander zu trennen ist.

Stahr's Kunstnrtheile zeugen wenigstens stets von einem klaren Auge,
und sind zierlich geschrieben. „Es ist ein prächtiger Mensch, dieser Meister
Tizian. In der Sinnlichkeit und ihrer schönheitsvvllen Wirklichkeit ist ihm
so wohl, daß selbst seine Magdalena, die Büßerin, ihm unter der Hand zu
ganz etwas Anderem wird. Dies volle, von üppigem Leben blühende Weib,
das den Welleusturz der Locken mit der Rechten über der Brust, und mit


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[0165] er ab." Stahr dagegen wird vorzüglich nur durch das Unästhetische des Bettelwesens beleidigt. Aber Stahr ist kein Aesthetiker von reinem Wasser, kein Kunstmensch an und für sich; sein Verstand läuft niemals mit der Phantasie davon. — „Wer in Italien katholisch wird, ist schwachen Verstandes oder ein Schelm. Ich meinestheils bin nicht Romantiker genug, um ein anderes als das Ge¬ fühl tiefster Trauer zu empfinden, wenn ich die arme Masse unverstandene, lateinische Gebete einem vorplärrcnden Pfaffen stundenlang nachplärren höre." Um so empfänglicher ist er aber auch, wie der wahrhaft Gebildete über¬ haupt, für das Ursprüngliche und Natürliche in fremden Zuständen. „Ich bin kein romantischer Enthusiast für italienische Volkszustände, aber ich sehe bis jetzt täglich mehr Gutes, als ich uach dein Geschrei so vieler deutscheu Michel hier erwartet habe. Es ist ein unverwüstlicher Kern in diesem Volk, der es trotz des elendesten Regiments, das auf seinem Nacken nun schon seit Jahrhunderten lastet, niemals völlig zu Grunde gehen ließ. Denke dir ein Volk ohne alle Erziehung, mit einer Religion, die in barokstes Heidenthum verknüpft, den tollsten Aberglauben befördert, mit einer Verwaltung, die es methodisch aussaugt, die jeden Ansatz zu einem Fortschritt unterdrückt, jeden Aufschwung der Industrie alsbald in Fesseln schlägt, denke dir das Volk in einem Theile seiner höhern Klassen verwirrt durch zu frühe, gewaltthätige Cultur- und Befreiuttgsversuche, durch Ansichten und Ideen, denen die po¬ sitiven Grundlagen und Voraussetzungen theoretischer Bildung fehlten, ver¬ derbt endlich durch die Tausende von fremden Besuchern, welche es zum Theil mißhandeln, oder durch Verschwendung aufreizen, und im Verein mit deu taufenden ehrloser Pfaffen und Mönche dnrch raffinirte Sittenlosigkeit in seinem edelsten Theil, dem weiblichen Geschlecht, demoralisiren: und dn wirst mit mir nur um so mehr den Fonds von Güte und liebenswürdiger Mensch¬ lichkeit bewundern, den sich dies Volk dennoch in seinem ganzen Wesen und BeHaben bewahrt hat." Ihrer ganzen Bildung nach läßt sich schon erwarten, daß Stahr mehr bei der Kunst verweilt, Willkomm mehr im Volksleben, wenn auch beides nicht von einander zu trennen ist. Stahr's Kunstnrtheile zeugen wenigstens stets von einem klaren Auge, und sind zierlich geschrieben. „Es ist ein prächtiger Mensch, dieser Meister Tizian. In der Sinnlichkeit und ihrer schönheitsvvllen Wirklichkeit ist ihm so wohl, daß selbst seine Magdalena, die Büßerin, ihm unter der Hand zu ganz etwas Anderem wird. Dies volle, von üppigem Leben blühende Weib, das den Welleusturz der Locken mit der Rechten über der Brust, und mit 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/165>, abgerufen am 01.09.2024.