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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Revolution bestrebt haben, das Interesse an den Persönlichkeiten, wie an
dem Detail überhaupt, zurückzudrängen, nud dagegen die Ideen in ihrem
dialectischer Prozeß hervorzuheben, so thut Lamartine das Gegentheil; sein
ganzes Interesse geht im Detail auf, sei es, daß er aus unsre Thränendrü-
sen drücken, sei es, daß er unser Blut erhitzen will. "Es ist beinahe immer
das stille Gemach des Privatlebens, in dein der Schlüssel für die Geheimnisse
des öffentlichen zu suchen ist." Daher geht er am Genauesten auf die innere
Welt der Frauen ein, die in die Revolution verwickelt wurden; die Schilde¬
rung der Mad. Roland nimmt mehr Raum ein, als die Charakteristik Ro-
bespierres und Dantons. Er folgt ihr in die Träume ihrer Kindheit, ana--
lysirt die wechselnden Regungen ihres Herzens, er belauscht ihren Schlum¬
mer; er folgt dem Wechsel ihrer Empfindungen gegen diesen und jenen. Er
liebt es, bei jeder Aeußerung, bei jeder That seiner Helden auf ihre vergan¬
genen und zukünftigen Schicksale anzuspielen, sie in den Furchen ihrer Stirn
zu suchen --


"es,"-" ot' et>s lucviatinx muni,
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Wir glauben mitunter, in irgend einem Roman der Gräfin Hahn-Hahn
zu sein, wenn die Finessen des Herzens bis in die anonymen Willkürlichkei¬
ten einer augenblicklichen Laune, einer vorübergehenden Stimmung verfolgt,
und bis in's Unsichtbare secirt werden. Seine Dialectik ist nicht von der
Art, daß er den Gegner mit einem furchtbaren Stoß erschüttert, sondern
daß er ihn durch einen zierlichen Pas artig überrascht"). Wenn er einmal
auf auswärtige Angelegenheiten kommt, was selten genug geschieht, so wer¬
den nicht die politische" Richtungen dieser Staaten, sondern die Hofanecdoten
erzählt. Keine Maitresse eiues fremden Königs entgeht dem Scharfblick des
historischen Romanschreibers; der Maskenball, auf dem Gustav III. erschossen
wurde, wird uns so lebhast vor Augen geführt, als ob wir gegenwärtig wä¬
ren; von den Gerüchten, die über den schnellen Tod Leopold's II. sich ver¬
breiteten, wird uus keines erspart, kurz, wenn irgendwo etwas Romantisches,
Pikantes angebracht werden kann, so muß der Ernst der Geschichte schwei¬
gen. Der Wechsel der Moden, die Mütze", Beinkleider u. s. w. werden
mit großem Ernst besprochen; wenn dem kleinen Dauphin eine Jakobiner¬
mütze aufgesetzt wird, und das arme Kind darunter schwitzt, so wird davon



*) "Der Herzog von Orleans erwartete muffig die herannahende Revolution, als ob
die Freiheit der Welt nur noch eine Maitresse wäre unter den unzähligen, deren er sich
erfreute."

Revolution bestrebt haben, das Interesse an den Persönlichkeiten, wie an
dem Detail überhaupt, zurückzudrängen, nud dagegen die Ideen in ihrem
dialectischer Prozeß hervorzuheben, so thut Lamartine das Gegentheil; sein
ganzes Interesse geht im Detail auf, sei es, daß er aus unsre Thränendrü-
sen drücken, sei es, daß er unser Blut erhitzen will. „Es ist beinahe immer
das stille Gemach des Privatlebens, in dein der Schlüssel für die Geheimnisse
des öffentlichen zu suchen ist." Daher geht er am Genauesten auf die innere
Welt der Frauen ein, die in die Revolution verwickelt wurden; die Schilde¬
rung der Mad. Roland nimmt mehr Raum ein, als die Charakteristik Ro-
bespierres und Dantons. Er folgt ihr in die Träume ihrer Kindheit, ana--
lysirt die wechselnden Regungen ihres Herzens, er belauscht ihren Schlum¬
mer; er folgt dem Wechsel ihrer Empfindungen gegen diesen und jenen. Er
liebt es, bei jeder Aeußerung, bei jeder That seiner Helden auf ihre vergan¬
genen und zukünftigen Schicksale anzuspielen, sie in den Furchen ihrer Stirn
zu suchen —


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Wir glauben mitunter, in irgend einem Roman der Gräfin Hahn-Hahn
zu sein, wenn die Finessen des Herzens bis in die anonymen Willkürlichkei¬
ten einer augenblicklichen Laune, einer vorübergehenden Stimmung verfolgt,
und bis in's Unsichtbare secirt werden. Seine Dialectik ist nicht von der
Art, daß er den Gegner mit einem furchtbaren Stoß erschüttert, sondern
daß er ihn durch einen zierlichen Pas artig überrascht"). Wenn er einmal
auf auswärtige Angelegenheiten kommt, was selten genug geschieht, so wer¬
den nicht die politische» Richtungen dieser Staaten, sondern die Hofanecdoten
erzählt. Keine Maitresse eiues fremden Königs entgeht dem Scharfblick des
historischen Romanschreibers; der Maskenball, auf dem Gustav III. erschossen
wurde, wird uns so lebhast vor Augen geführt, als ob wir gegenwärtig wä¬
ren; von den Gerüchten, die über den schnellen Tod Leopold's II. sich ver¬
breiteten, wird uus keines erspart, kurz, wenn irgendwo etwas Romantisches,
Pikantes angebracht werden kann, so muß der Ernst der Geschichte schwei¬
gen. Der Wechsel der Moden, die Mütze», Beinkleider u. s. w. werden
mit großem Ernst besprochen; wenn dem kleinen Dauphin eine Jakobiner¬
mütze aufgesetzt wird, und das arme Kind darunter schwitzt, so wird davon



*) „Der Herzog von Orleans erwartete muffig die herannahende Revolution, als ob
die Freiheit der Welt nur noch eine Maitresse wäre unter den unzähligen, deren er sich
erfreute."
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[0579] Revolution bestrebt haben, das Interesse an den Persönlichkeiten, wie an dem Detail überhaupt, zurückzudrängen, nud dagegen die Ideen in ihrem dialectischer Prozeß hervorzuheben, so thut Lamartine das Gegentheil; sein ganzes Interesse geht im Detail auf, sei es, daß er aus unsre Thränendrü- sen drücken, sei es, daß er unser Blut erhitzen will. „Es ist beinahe immer das stille Gemach des Privatlebens, in dein der Schlüssel für die Geheimnisse des öffentlichen zu suchen ist." Daher geht er am Genauesten auf die innere Welt der Frauen ein, die in die Revolution verwickelt wurden; die Schilde¬ rung der Mad. Roland nimmt mehr Raum ein, als die Charakteristik Ro- bespierres und Dantons. Er folgt ihr in die Träume ihrer Kindheit, ana-- lysirt die wechselnden Regungen ihres Herzens, er belauscht ihren Schlum¬ mer; er folgt dem Wechsel ihrer Empfindungen gegen diesen und jenen. Er liebt es, bei jeder Aeußerung, bei jeder That seiner Helden auf ihre vergan¬ genen und zukünftigen Schicksale anzuspielen, sie in den Furchen ihrer Stirn zu suchen — «es,«-« ot' et>s lucviatinx muni, ivllivli ello soul's w^r clov» leave Iivlüml. Wir glauben mitunter, in irgend einem Roman der Gräfin Hahn-Hahn zu sein, wenn die Finessen des Herzens bis in die anonymen Willkürlichkei¬ ten einer augenblicklichen Laune, einer vorübergehenden Stimmung verfolgt, und bis in's Unsichtbare secirt werden. Seine Dialectik ist nicht von der Art, daß er den Gegner mit einem furchtbaren Stoß erschüttert, sondern daß er ihn durch einen zierlichen Pas artig überrascht"). Wenn er einmal auf auswärtige Angelegenheiten kommt, was selten genug geschieht, so wer¬ den nicht die politische» Richtungen dieser Staaten, sondern die Hofanecdoten erzählt. Keine Maitresse eiues fremden Königs entgeht dem Scharfblick des historischen Romanschreibers; der Maskenball, auf dem Gustav III. erschossen wurde, wird uns so lebhast vor Augen geführt, als ob wir gegenwärtig wä¬ ren; von den Gerüchten, die über den schnellen Tod Leopold's II. sich ver¬ breiteten, wird uus keines erspart, kurz, wenn irgendwo etwas Romantisches, Pikantes angebracht werden kann, so muß der Ernst der Geschichte schwei¬ gen. Der Wechsel der Moden, die Mütze», Beinkleider u. s. w. werden mit großem Ernst besprochen; wenn dem kleinen Dauphin eine Jakobiner¬ mütze aufgesetzt wird, und das arme Kind darunter schwitzt, so wird davon *) „Der Herzog von Orleans erwartete muffig die herannahende Revolution, als ob die Freiheit der Welt nur noch eine Maitresse wäre unter den unzähligen, deren er sich erfreute."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/579>, abgerufen am 22.07.2024.