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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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ein Aufhebens gemacht, daß das Tragische des Moments sich in eine völlig
entgegengesetzte Stimmung auflöst. Es liegt im französischen Volk, auch in
seinen ernsthaftesten Tendenzen, des Komödienhaften genug; die Declinatio¬
nen der damaligen Freiheitshelden schmecken oft genug nach dem Theater,
aber dieses Theatralische wird auch redlich ausgebeutet, und die jenen Wor¬
ten entsprechenden Mimen und Gesten aus der Phantasie des Historikers
hinzugedichtet. Die schöne Königin bietet natürlich den reichhaltigsten Stoff
für ein derartiges Interesse; aber wenn ein schönes Kind unter den Fisch¬
weibern der Hallen sich einmal mit reizender Naivität laut macht, so wird
dieses auch nicht verschmäht. Würde es wohl einem Geschichtschreiber, den
sein furchtbar erhabener Gegenstand ganz erfüllt, einfallen, von Vergniaud
zu erzählen, er habe die Gewohnheit gehabt, beim Schreiben das Papier
auf's Knie zu legen, statt auf deu Tisch?

Schon Thiers hat sich vorzüglich bemüht, die Emeuten in den Straßen
von Paris, die Tage vom 14. Juli, 5. October, 20. Juni, 10. Angust durch
eine anschauliche Schilderung zu vergegenwärtige". Wir werden gestoßen
und gedrängt, fortgetragen vom Gewühl des Pöbels, fortgewälzt von dem
Strom des Aufruhrs; wir theilen seine Furcht, seine Wuth, seine Leiden¬
schaft. Aber Thiers bleibt in dem Hauptstrom der Bewegung; Lamartine
geht weiter; er schleicht sich in die Schlafzimmer der Demagogen, er weiß,
was ihre Frauen miteinander reden, er schaut in die Tiefen des Herzens,
und liest darin die Monologen, die sie in den Augenblicken der Drangsal
halten oder doch halten könnten; und er weiß wirklich ein echt dramatisches
Interesse hineinzulegen. Camille Desmoulins stürzt nur einen Augenblick
nach Hause, um einen neuen Rock anzuziehen, man sollte denken, das wird
keiner bemerken; aber nein! Lamartine steht auf der Lauer, faßt rasch seiue
Hand, zählt die Pulsschläge, und entläßt ihn mit einer graziösen Verbeu-
gung. Robespierre geht die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab,
Alles schläft, keiner kann ihn hören, aber Lamartine ist unter dem Bett ver--
steckt, zeichnet jede Miene, jeden Gestus auf, und verzeichnet sie in die Acten
der Ewigkeit.

Es ist natürlich, daß durch diese Genremalerei der Totaleindruck des
Gemäldes einigermaßen gestört wird. Lamartine sucht ihn dann zu ersetzen
durch summarische Ueberblicke, sowohl beim Auftreten einer neuen Erschei¬
nung, als bei ihrem Ende. Diese Ueberblicke sind immer geistreich, aber
auch immer nur halb wahr, weil sie aus echt französischer Systcmsucht, was
für den einzelnen Fall gilt, allgemein aussprechen. Folgende Schilderung
der Parteien beim Beginn der legislativen Versammlung wird zeigen, daß


ein Aufhebens gemacht, daß das Tragische des Moments sich in eine völlig
entgegengesetzte Stimmung auflöst. Es liegt im französischen Volk, auch in
seinen ernsthaftesten Tendenzen, des Komödienhaften genug; die Declinatio¬
nen der damaligen Freiheitshelden schmecken oft genug nach dem Theater,
aber dieses Theatralische wird auch redlich ausgebeutet, und die jenen Wor¬
ten entsprechenden Mimen und Gesten aus der Phantasie des Historikers
hinzugedichtet. Die schöne Königin bietet natürlich den reichhaltigsten Stoff
für ein derartiges Interesse; aber wenn ein schönes Kind unter den Fisch¬
weibern der Hallen sich einmal mit reizender Naivität laut macht, so wird
dieses auch nicht verschmäht. Würde es wohl einem Geschichtschreiber, den
sein furchtbar erhabener Gegenstand ganz erfüllt, einfallen, von Vergniaud
zu erzählen, er habe die Gewohnheit gehabt, beim Schreiben das Papier
auf's Knie zu legen, statt auf deu Tisch?

Schon Thiers hat sich vorzüglich bemüht, die Emeuten in den Straßen
von Paris, die Tage vom 14. Juli, 5. October, 20. Juni, 10. Angust durch
eine anschauliche Schilderung zu vergegenwärtige». Wir werden gestoßen
und gedrängt, fortgetragen vom Gewühl des Pöbels, fortgewälzt von dem
Strom des Aufruhrs; wir theilen seine Furcht, seine Wuth, seine Leiden¬
schaft. Aber Thiers bleibt in dem Hauptstrom der Bewegung; Lamartine
geht weiter; er schleicht sich in die Schlafzimmer der Demagogen, er weiß,
was ihre Frauen miteinander reden, er schaut in die Tiefen des Herzens,
und liest darin die Monologen, die sie in den Augenblicken der Drangsal
halten oder doch halten könnten; und er weiß wirklich ein echt dramatisches
Interesse hineinzulegen. Camille Desmoulins stürzt nur einen Augenblick
nach Hause, um einen neuen Rock anzuziehen, man sollte denken, das wird
keiner bemerken; aber nein! Lamartine steht auf der Lauer, faßt rasch seiue
Hand, zählt die Pulsschläge, und entläßt ihn mit einer graziösen Verbeu-
gung. Robespierre geht die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab,
Alles schläft, keiner kann ihn hören, aber Lamartine ist unter dem Bett ver--
steckt, zeichnet jede Miene, jeden Gestus auf, und verzeichnet sie in die Acten
der Ewigkeit.

Es ist natürlich, daß durch diese Genremalerei der Totaleindruck des
Gemäldes einigermaßen gestört wird. Lamartine sucht ihn dann zu ersetzen
durch summarische Ueberblicke, sowohl beim Auftreten einer neuen Erschei¬
nung, als bei ihrem Ende. Diese Ueberblicke sind immer geistreich, aber
auch immer nur halb wahr, weil sie aus echt französischer Systcmsucht, was
für den einzelnen Fall gilt, allgemein aussprechen. Folgende Schilderung
der Parteien beim Beginn der legislativen Versammlung wird zeigen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/580>, abgerufen am 22.07.2024.