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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Das erste Buch von Bedeutung, das wir von ihm haben, ist "des Kna¬
ben Wunderhorn," eine Sammlung deutscher Volkslieder, in Gemein¬
schaft mit seinem Freund Brentano im Jahr 1806 herausgegeben. Um die
Bedeutung dieses Buchs zu verstehen, müssen wir uns die allgemeine Ten¬
denz jener Zeit vergegenwärtigen.

Das Jahr > 80K war für die deutsche Literatur ein eben so entscheiden¬
der Wendepunkt als in den politischen Verhältnissen Deutschlands. Es war
die Zeit, wo die romantische Schule, die das deutsche Bewußtsein in allen
Beziehungen aus seinen Fugen gerückt, in der Religion, der Philosophie,
der Politik und der Kunst die seltsamsten Tendenzen prvphctenartig aus¬
gestreut hatte, ihre Kräfte erschöpft und ihren revolutionären Bestrebungen
entsagt hatte. Sie hatte sich in ein Unternehmen eingelassen, das über ihre
Kräfte ging, das überhaupt nur so lange die Phantasie reizen konnte, als
es sich ganz im Allgemeinen hielt: das Unternehmen nämlich, Idealismus
und Realismus vollkommen zu versöhnen, in der Religion alle Gegensätze,
Heidenthum, Christenthum, Philosophie zu neutralisiren. Diese Religion, die
zugleich die reichste Blüthe der Mythologie entfalten sollte -- denn sie nahm
ja in ihr Pantheon alle Zeiten und Völker auf -- verklärt durch die
tiefsten Speculationen der Metaphysik sollte in der Kunst dargestellt werden;
letztere sollte mit ihrer universellen, symbolischen Bedeutung alle Unterschiede
der Nationen verwischen und zugleich die Mysterien aller Wissenschaften:
Physik, Geschichte n. dergl. in. umfassen. Es ging damals in Berlin eben
so wie heutzutage in der sogenannten kritischen Schule; man galoppirte vor¬
wärts, im Flug wurde ein Standpunkt nach dem andern überwunden, ein
Boden nach dem andern aufgegeben; man fühlte immer tiefer, immer tiefer,
bis man zuletzt nichts fühlte, als diese abstracte Tiefe eines möglichen Füh-
lens; man phantastrte und schaute immer freier, immer romantischer, immer
geistiger, bis man zuletzt nichts schaute, als diese abstracte Freiheit der ge-
genstandlvsen Anschauung; man dachte immer sublimer, bis man sich zuletzt
in den tiefsten, unendlichsten Gedanken, in das absolute Nichts versenkte!
In einem wilden Wirbel kreiste die Welt um den betrunkenen Verstand, um
nur irgend einen Halt zu finde", klammerten sich die einen an die Idee des
Katholicismus an, vertieften sich die andern in die Weisheit der Jndier, in
das altenglische Theater, in das Mittelalter n. f. w.

Es ist hier nicht der Ort, diese merkwürdige Wendung unserer Ro¬
mantik näher zu verfolgen; genug, in dem rastlosen Jagen nach einem uni¬
versellen Idealismus war man damals so weit gekommen, "daß man dies
große Werk erst im Einzelnen durchführen, daß man zuerst alle Schichten


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Das erste Buch von Bedeutung, das wir von ihm haben, ist „des Kna¬
ben Wunderhorn," eine Sammlung deutscher Volkslieder, in Gemein¬
schaft mit seinem Freund Brentano im Jahr 1806 herausgegeben. Um die
Bedeutung dieses Buchs zu verstehen, müssen wir uns die allgemeine Ten¬
denz jener Zeit vergegenwärtigen.

Das Jahr > 80K war für die deutsche Literatur ein eben so entscheiden¬
der Wendepunkt als in den politischen Verhältnissen Deutschlands. Es war
die Zeit, wo die romantische Schule, die das deutsche Bewußtsein in allen
Beziehungen aus seinen Fugen gerückt, in der Religion, der Philosophie,
der Politik und der Kunst die seltsamsten Tendenzen prvphctenartig aus¬
gestreut hatte, ihre Kräfte erschöpft und ihren revolutionären Bestrebungen
entsagt hatte. Sie hatte sich in ein Unternehmen eingelassen, das über ihre
Kräfte ging, das überhaupt nur so lange die Phantasie reizen konnte, als
es sich ganz im Allgemeinen hielt: das Unternehmen nämlich, Idealismus
und Realismus vollkommen zu versöhnen, in der Religion alle Gegensätze,
Heidenthum, Christenthum, Philosophie zu neutralisiren. Diese Religion, die
zugleich die reichste Blüthe der Mythologie entfalten sollte — denn sie nahm
ja in ihr Pantheon alle Zeiten und Völker auf — verklärt durch die
tiefsten Speculationen der Metaphysik sollte in der Kunst dargestellt werden;
letztere sollte mit ihrer universellen, symbolischen Bedeutung alle Unterschiede
der Nationen verwischen und zugleich die Mysterien aller Wissenschaften:
Physik, Geschichte n. dergl. in. umfassen. Es ging damals in Berlin eben
so wie heutzutage in der sogenannten kritischen Schule; man galoppirte vor¬
wärts, im Flug wurde ein Standpunkt nach dem andern überwunden, ein
Boden nach dem andern aufgegeben; man fühlte immer tiefer, immer tiefer,
bis man zuletzt nichts fühlte, als diese abstracte Tiefe eines möglichen Füh-
lens; man phantastrte und schaute immer freier, immer romantischer, immer
geistiger, bis man zuletzt nichts schaute, als diese abstracte Freiheit der ge-
genstandlvsen Anschauung; man dachte immer sublimer, bis man sich zuletzt
in den tiefsten, unendlichsten Gedanken, in das absolute Nichts versenkte!
In einem wilden Wirbel kreiste die Welt um den betrunkenen Verstand, um
nur irgend einen Halt zu finde», klammerten sich die einen an die Idee des
Katholicismus an, vertieften sich die andern in die Weisheit der Jndier, in
das altenglische Theater, in das Mittelalter n. f. w.

Es ist hier nicht der Ort, diese merkwürdige Wendung unserer Ro¬
mantik näher zu verfolgen; genug, in dem rastlosen Jagen nach einem uni¬
versellen Idealismus war man damals so weit gekommen, „daß man dies
große Werk erst im Einzelnen durchführen, daß man zuerst alle Schichten


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[0335] Das erste Buch von Bedeutung, das wir von ihm haben, ist „des Kna¬ ben Wunderhorn," eine Sammlung deutscher Volkslieder, in Gemein¬ schaft mit seinem Freund Brentano im Jahr 1806 herausgegeben. Um die Bedeutung dieses Buchs zu verstehen, müssen wir uns die allgemeine Ten¬ denz jener Zeit vergegenwärtigen. Das Jahr > 80K war für die deutsche Literatur ein eben so entscheiden¬ der Wendepunkt als in den politischen Verhältnissen Deutschlands. Es war die Zeit, wo die romantische Schule, die das deutsche Bewußtsein in allen Beziehungen aus seinen Fugen gerückt, in der Religion, der Philosophie, der Politik und der Kunst die seltsamsten Tendenzen prvphctenartig aus¬ gestreut hatte, ihre Kräfte erschöpft und ihren revolutionären Bestrebungen entsagt hatte. Sie hatte sich in ein Unternehmen eingelassen, das über ihre Kräfte ging, das überhaupt nur so lange die Phantasie reizen konnte, als es sich ganz im Allgemeinen hielt: das Unternehmen nämlich, Idealismus und Realismus vollkommen zu versöhnen, in der Religion alle Gegensätze, Heidenthum, Christenthum, Philosophie zu neutralisiren. Diese Religion, die zugleich die reichste Blüthe der Mythologie entfalten sollte — denn sie nahm ja in ihr Pantheon alle Zeiten und Völker auf — verklärt durch die tiefsten Speculationen der Metaphysik sollte in der Kunst dargestellt werden; letztere sollte mit ihrer universellen, symbolischen Bedeutung alle Unterschiede der Nationen verwischen und zugleich die Mysterien aller Wissenschaften: Physik, Geschichte n. dergl. in. umfassen. Es ging damals in Berlin eben so wie heutzutage in der sogenannten kritischen Schule; man galoppirte vor¬ wärts, im Flug wurde ein Standpunkt nach dem andern überwunden, ein Boden nach dem andern aufgegeben; man fühlte immer tiefer, immer tiefer, bis man zuletzt nichts fühlte, als diese abstracte Tiefe eines möglichen Füh- lens; man phantastrte und schaute immer freier, immer romantischer, immer geistiger, bis man zuletzt nichts schaute, als diese abstracte Freiheit der ge- genstandlvsen Anschauung; man dachte immer sublimer, bis man sich zuletzt in den tiefsten, unendlichsten Gedanken, in das absolute Nichts versenkte! In einem wilden Wirbel kreiste die Welt um den betrunkenen Verstand, um nur irgend einen Halt zu finde», klammerten sich die einen an die Idee des Katholicismus an, vertieften sich die andern in die Weisheit der Jndier, in das altenglische Theater, in das Mittelalter n. f. w. Es ist hier nicht der Ort, diese merkwürdige Wendung unserer Ro¬ mantik näher zu verfolgen; genug, in dem rastlosen Jagen nach einem uni¬ versellen Idealismus war man damals so weit gekommen, „daß man dies große Werk erst im Einzelnen durchführen, daß man zuerst alle Schichten 43'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/335>, abgerufen am 03.07.2024.