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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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seems vor sich gegangen waren, ließen das Grundeigenthum ans dein Zustand
der Erstarrung treten, in welchem es das Feudalsystem so lange gehalten.
So entwickelte sich das physiokratische System: der Boden ist die einzige Quelle
des Reichthums. Um des Reinertrags willen muß vor Allem die Bearbei¬
tung des Bodens und der Stand, der sich mit seiner Cultur beschäftigt, ge¬
fördert werden. Der Boden muß frei gemacht werden, um seine ganze Thätigkeit
entwickeln zu können. Die sicherste Politik des Handels besteht in der vol¬
len Freiheit der Concurrenz. Diese Lehre griff mit starker Hand in die cor?
porativen Verhältnisse des städtischen Lebens ein; sie brach die selbstsüchtige
Geschlossenheit der Zunft, das unsinnige Monopol des Arbeitsrechtcs, den
trägen Stolz der Zunftmeistern; sie proclamirte die Freiheit der Arbeit,
sie wies dem Fleiß und der Tüchtigkeit das als verdienten Lohn zu, was
bisher als ein Recht des Grundstückes vererbt oder dem Meistersohn allein
käuflich gewesen war. Ja schon erhob sie sich, in der menschlichen Arbeit allein
die Quelle des nationalen Reichthums zu erkennen. Jetzt ging es daran,
von den Spitzen der menschlichen Gesellschaft hinabzubringen bis in die un¬
tersten Schichten, bis in die träge geschichtslose Tiefe der Massen.

Hand in Hand mit der Cultur der materiellen Interessen ging die gei¬
stige Entwickelung, in der Kunst wie in der Wissenschaft. Fast ein
Jahrhundert lang hatten die theologischen Fragen im Vordergrund gestan¬
den; sie schiene" alles andere wissenschaftliche Interesse zu absorbiren. Nun
wie mit einem Schlage scheint Alles verwandelt: man verläßt den theologi¬
schen Boden, selbst die Philosophie reißt sich von der altgewohnten Weise
los; von empirisch mathematischen Grundsitzen aus auferbaut sie sich von
Neuem. Man bewältigt. die geheimnißvollen Gewalten der Natur und ihren
Zauber, indem man ihnen ihre Formel abzwingt; dem Experiment, der Beobach¬
tung muß die Natur Rede stehn; nach ihren eigenen Gesetzen beherrscht man sie
nun, beginnt sie den menschlichen Zwecken dienstbar zu machen. Zugleich eilte die
Doctrin hoch hinaus über die Wirklichkeiten, machte gegen sie die Forderung,
ihr nachznrmgm; sie fühlte sich in ihrem Recht, sich mit ihrer vollen Ener¬
gie auf diese Irrationalitäten des Hergebrachten zu werfen, ihre Widersprüche
aufzuweisen, sie völlig zu destrniren. Die Bildung bringt einen tiefen Riß
in die Gesellschaft; der Masse bleiben jene traurigen Elemente des Herge¬
brachten, während sich die Gebildeten mehr und mehr von dieser Beschränkt¬
heit losringen, ein allgemein Menschliches an dessen Stelle setzen. Aber
eben darum ist dieser Vorzug der Bildung so weit entfernt, sich aristokratisch
abschließen zu wollen , daß sofort das ganze Bestreben dahin gerichtet ist,
das Gut der Bildung möglichst zu verallgemeinern. Die Wissenschaften selbst


seems vor sich gegangen waren, ließen das Grundeigenthum ans dein Zustand
der Erstarrung treten, in welchem es das Feudalsystem so lange gehalten.
So entwickelte sich das physiokratische System: der Boden ist die einzige Quelle
des Reichthums. Um des Reinertrags willen muß vor Allem die Bearbei¬
tung des Bodens und der Stand, der sich mit seiner Cultur beschäftigt, ge¬
fördert werden. Der Boden muß frei gemacht werden, um seine ganze Thätigkeit
entwickeln zu können. Die sicherste Politik des Handels besteht in der vol¬
len Freiheit der Concurrenz. Diese Lehre griff mit starker Hand in die cor?
porativen Verhältnisse des städtischen Lebens ein; sie brach die selbstsüchtige
Geschlossenheit der Zunft, das unsinnige Monopol des Arbeitsrechtcs, den
trägen Stolz der Zunftmeistern; sie proclamirte die Freiheit der Arbeit,
sie wies dem Fleiß und der Tüchtigkeit das als verdienten Lohn zu, was
bisher als ein Recht des Grundstückes vererbt oder dem Meistersohn allein
käuflich gewesen war. Ja schon erhob sie sich, in der menschlichen Arbeit allein
die Quelle des nationalen Reichthums zu erkennen. Jetzt ging es daran,
von den Spitzen der menschlichen Gesellschaft hinabzubringen bis in die un¬
tersten Schichten, bis in die träge geschichtslose Tiefe der Massen.

Hand in Hand mit der Cultur der materiellen Interessen ging die gei¬
stige Entwickelung, in der Kunst wie in der Wissenschaft. Fast ein
Jahrhundert lang hatten die theologischen Fragen im Vordergrund gestan¬
den; sie schiene« alles andere wissenschaftliche Interesse zu absorbiren. Nun
wie mit einem Schlage scheint Alles verwandelt: man verläßt den theologi¬
schen Boden, selbst die Philosophie reißt sich von der altgewohnten Weise
los; von empirisch mathematischen Grundsitzen aus auferbaut sie sich von
Neuem. Man bewältigt. die geheimnißvollen Gewalten der Natur und ihren
Zauber, indem man ihnen ihre Formel abzwingt; dem Experiment, der Beobach¬
tung muß die Natur Rede stehn; nach ihren eigenen Gesetzen beherrscht man sie
nun, beginnt sie den menschlichen Zwecken dienstbar zu machen. Zugleich eilte die
Doctrin hoch hinaus über die Wirklichkeiten, machte gegen sie die Forderung,
ihr nachznrmgm; sie fühlte sich in ihrem Recht, sich mit ihrer vollen Ener¬
gie auf diese Irrationalitäten des Hergebrachten zu werfen, ihre Widersprüche
aufzuweisen, sie völlig zu destrniren. Die Bildung bringt einen tiefen Riß
in die Gesellschaft; der Masse bleiben jene traurigen Elemente des Herge¬
brachten, während sich die Gebildeten mehr und mehr von dieser Beschränkt¬
heit losringen, ein allgemein Menschliches an dessen Stelle setzen. Aber
eben darum ist dieser Vorzug der Bildung so weit entfernt, sich aristokratisch
abschließen zu wollen , daß sofort das ganze Bestreben dahin gerichtet ist,
das Gut der Bildung möglichst zu verallgemeinern. Die Wissenschaften selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/292>, abgerufen am 22.07.2024.