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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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scheinen nun erst in dem glänzenden Hvftleide eleganter Forschung und ge¬
wählter Darstellung der Gegenwart ganz anzugehören, sich ihrer Würde be¬
wußt zu werden. Rousseau gibt zuerst den Verneinungen der Aufklärung
eine positive und populäre Fassung. Es gilt ihm, eine Form der Associa¬
tion zu finden, durch welche Jeder sich mit Allen einigend, doch nur sich sel¬
ber gehorche und somit frei bleibe, denn nur seiner Vernunft hat er zu ge¬
horchen, das ist seine Freiheit. Es galt, nur erst wieder einmal rein Feld
zu schaffen, aus den Verbildungen und Verkümmerungen des nur Positiven
der Menschen und sein unvergänglich angebornes Recht zu retten.

War denn diese Entfremdung der staatlichen Gestaltung und der vollst
thümlichen Bildung eine Nothwendigkeit? Wenn die aufgeklärten Monar¬
chien des 18. Jahrh, in der Sorge für das Gemeinwohl der untern Classen
eine neue Basis zu gewinnen trachten konnte", vermochten sie denn nicht
ebenso jenes Andere zu erreichen? - In der Natur der europäischen Swa>
ten und des Staatensystems lag die Unmöglichkeit; ja Alles, was für das
Gemeinwohl, für Ordnung und Gerechtigkeit, für die Masse der Untertha¬
nen Förderliches geschaffen wurde, diente nur, diese Unmöglichkeit zu steigern.
Man war zu einem politischen System gekommen, welches durch und durch
krankhaft, unheilbar, monströs war. Die Zerrissenheit der Nationen, das
dynastische Zusammenballen von Ländern und Völkern, die Gründung des
ganzen Staatswesens auf Gewalt und Usurpation waren in allen Staaten
der alten Welt, in all' ihren Colonien zu einer gleichen Unsittlichkeit aufge
wachsen. Nirgends war Kirche, Volk und Staat im natürlichen Verhältniß
der Uebereinstimmung.

Doch überschätzen wir das Natürliche, diese friedliche Gleichförmigkeit
acht, Das eben ist die Weise der Geschichte, sie störend und verwirrend
zu immer neuem Streben zu treiben. Und wenn dann im Verlauf des ge¬
schichtlichen Lebens die Gestaltungen immer ausschweifender, ihr Zusammen¬
hang mit dein Boden, darauf sie erwachsen sind, immer lockerer, ihr Ver¬
hältniß zu dein Inhalt, dessen Ausdruck, zu den Kräften, deren Träger sie
sein sollen, immer verzerrter und endlich unmöglich wird, dann ist die Zeit
ungeheurer Umwälzungen da, dann erheben sich gegen die gewordnen Miß-
sormen, gegen diese Lügenmächte des Bestehenden, die sittlichen Urgewalten,
aus die Zertrümmerung des Alten eine neue Welt zu gründen.

Mit dem nordamerikanischen Freiheitskrieg begannen diese
Umwälzungen. Es war dieses ein Symptom von der Krankheit des britischen
Reichs. Die Machtstellung, welche die britische Krone den übrigen Staaten
gegenüber eingenommen hatte, gestattete nicht, still zu stehen'und die Her-


Grenzboten. II. 1"47 Z8

scheinen nun erst in dem glänzenden Hvftleide eleganter Forschung und ge¬
wählter Darstellung der Gegenwart ganz anzugehören, sich ihrer Würde be¬
wußt zu werden. Rousseau gibt zuerst den Verneinungen der Aufklärung
eine positive und populäre Fassung. Es gilt ihm, eine Form der Associa¬
tion zu finden, durch welche Jeder sich mit Allen einigend, doch nur sich sel¬
ber gehorche und somit frei bleibe, denn nur seiner Vernunft hat er zu ge¬
horchen, das ist seine Freiheit. Es galt, nur erst wieder einmal rein Feld
zu schaffen, aus den Verbildungen und Verkümmerungen des nur Positiven
der Menschen und sein unvergänglich angebornes Recht zu retten.

War denn diese Entfremdung der staatlichen Gestaltung und der vollst
thümlichen Bildung eine Nothwendigkeit? Wenn die aufgeklärten Monar¬
chien des 18. Jahrh, in der Sorge für das Gemeinwohl der untern Classen
eine neue Basis zu gewinnen trachten konnte», vermochten sie denn nicht
ebenso jenes Andere zu erreichen? - In der Natur der europäischen Swa>
ten und des Staatensystems lag die Unmöglichkeit; ja Alles, was für das
Gemeinwohl, für Ordnung und Gerechtigkeit, für die Masse der Untertha¬
nen Förderliches geschaffen wurde, diente nur, diese Unmöglichkeit zu steigern.
Man war zu einem politischen System gekommen, welches durch und durch
krankhaft, unheilbar, monströs war. Die Zerrissenheit der Nationen, das
dynastische Zusammenballen von Ländern und Völkern, die Gründung des
ganzen Staatswesens auf Gewalt und Usurpation waren in allen Staaten
der alten Welt, in all' ihren Colonien zu einer gleichen Unsittlichkeit aufge
wachsen. Nirgends war Kirche, Volk und Staat im natürlichen Verhältniß
der Uebereinstimmung.

Doch überschätzen wir das Natürliche, diese friedliche Gleichförmigkeit
acht, Das eben ist die Weise der Geschichte, sie störend und verwirrend
zu immer neuem Streben zu treiben. Und wenn dann im Verlauf des ge¬
schichtlichen Lebens die Gestaltungen immer ausschweifender, ihr Zusammen¬
hang mit dein Boden, darauf sie erwachsen sind, immer lockerer, ihr Ver¬
hältniß zu dein Inhalt, dessen Ausdruck, zu den Kräften, deren Träger sie
sein sollen, immer verzerrter und endlich unmöglich wird, dann ist die Zeit
ungeheurer Umwälzungen da, dann erheben sich gegen die gewordnen Miß-
sormen, gegen diese Lügenmächte des Bestehenden, die sittlichen Urgewalten,
aus die Zertrümmerung des Alten eine neue Welt zu gründen.

Mit dem nordamerikanischen Freiheitskrieg begannen diese
Umwälzungen. Es war dieses ein Symptom von der Krankheit des britischen
Reichs. Die Machtstellung, welche die britische Krone den übrigen Staaten
gegenüber eingenommen hatte, gestattete nicht, still zu stehen'und die Her-


Grenzboten. II. 1«47 Z8
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[0293] scheinen nun erst in dem glänzenden Hvftleide eleganter Forschung und ge¬ wählter Darstellung der Gegenwart ganz anzugehören, sich ihrer Würde be¬ wußt zu werden. Rousseau gibt zuerst den Verneinungen der Aufklärung eine positive und populäre Fassung. Es gilt ihm, eine Form der Associa¬ tion zu finden, durch welche Jeder sich mit Allen einigend, doch nur sich sel¬ ber gehorche und somit frei bleibe, denn nur seiner Vernunft hat er zu ge¬ horchen, das ist seine Freiheit. Es galt, nur erst wieder einmal rein Feld zu schaffen, aus den Verbildungen und Verkümmerungen des nur Positiven der Menschen und sein unvergänglich angebornes Recht zu retten. War denn diese Entfremdung der staatlichen Gestaltung und der vollst thümlichen Bildung eine Nothwendigkeit? Wenn die aufgeklärten Monar¬ chien des 18. Jahrh, in der Sorge für das Gemeinwohl der untern Classen eine neue Basis zu gewinnen trachten konnte», vermochten sie denn nicht ebenso jenes Andere zu erreichen? - In der Natur der europäischen Swa> ten und des Staatensystems lag die Unmöglichkeit; ja Alles, was für das Gemeinwohl, für Ordnung und Gerechtigkeit, für die Masse der Untertha¬ nen Förderliches geschaffen wurde, diente nur, diese Unmöglichkeit zu steigern. Man war zu einem politischen System gekommen, welches durch und durch krankhaft, unheilbar, monströs war. Die Zerrissenheit der Nationen, das dynastische Zusammenballen von Ländern und Völkern, die Gründung des ganzen Staatswesens auf Gewalt und Usurpation waren in allen Staaten der alten Welt, in all' ihren Colonien zu einer gleichen Unsittlichkeit aufge wachsen. Nirgends war Kirche, Volk und Staat im natürlichen Verhältniß der Uebereinstimmung. Doch überschätzen wir das Natürliche, diese friedliche Gleichförmigkeit acht, Das eben ist die Weise der Geschichte, sie störend und verwirrend zu immer neuem Streben zu treiben. Und wenn dann im Verlauf des ge¬ schichtlichen Lebens die Gestaltungen immer ausschweifender, ihr Zusammen¬ hang mit dein Boden, darauf sie erwachsen sind, immer lockerer, ihr Ver¬ hältniß zu dein Inhalt, dessen Ausdruck, zu den Kräften, deren Träger sie sein sollen, immer verzerrter und endlich unmöglich wird, dann ist die Zeit ungeheurer Umwälzungen da, dann erheben sich gegen die gewordnen Miß- sormen, gegen diese Lügenmächte des Bestehenden, die sittlichen Urgewalten, aus die Zertrümmerung des Alten eine neue Welt zu gründen. Mit dem nordamerikanischen Freiheitskrieg begannen diese Umwälzungen. Es war dieses ein Symptom von der Krankheit des britischen Reichs. Die Machtstellung, welche die britische Krone den übrigen Staaten gegenüber eingenommen hatte, gestattete nicht, still zu stehen'und die Her- Grenzboten. II. 1«47 Z8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/293>, abgerufen am 22.07.2024.