Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Nach einem langen Leben voll rastloser, unermüdlicher Thätigkeit, einem nach
allen Seiten hin gerichteten und doch stets klaren und selbstbewußten Streben,
am Abende seiner Tage die wunderbaren Schätze, welche der rastlose Drang des mensch¬
lichen Geistes aufgespeichert hat, zu übersehen, zu ordnen, zu gestalten und diese
Welt der Räthsel und der Fragen, in der nur der Adlerblick der höchsten Wissen¬
schaft sich zu Hause finden kann, in einem anmuthigen Gemälde der Menge hinzu¬
stellen, die nur mit geheimer Scheu sich dem Allerheiligsten des Gedankens zu nahen
wagt -- wahrlich, das ist ein Abschluß des Lebens, bei dem wir fragen könnten,
ob wir mehr unser eigenes Glück, die nur seine Früchte einernten, oder das des
Greises preisen sollen, dem er zu Theil wurde; das ist ein Ziel, für das es werth
ist, gelebt zu haben.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Aufgabe, die der große Naturforscher
sich gestellt.

Der Gegenstand seiner Darstellungen ist, was wir Natur nennen; indem er
diesen Namen vermied, hatte er die bestimmte Absicht, den scheinbaren Gegensatz
aufzuheben, in den der menschliche Geist sich zu dem Weltganzen, das er außer
sich sieht, gestellt hat. Er ist in diesem Bestreben in Einklang mit der gesammten
neuen Philosophie, oder sagen wir geradezu, der Wissenschaft überhaupt.

Der menschliche Egoismus nämlich, im Bunde mit der Phantasie, hat den Geist
-- das menschliche Wesen -- als ein außerhalb und über der Natur stehendes
Wesen sich ausgedichtet; er hat das höchste Wesen mit allen möglichen mensch¬
lichen Vollkommenheiten ausgestattet, und dafür die Natur, den Gegensatz deS
Geistes, aller eigenthümlichen Herrlichkeit entkleidet, da Alles, was die mensch¬
liche Idee Großes und Schönes auffassen oder sich ausdenken konnte, dazu ver-
braucht wurde, das Jenseits auszustatten.

Es ist noch nicht lange her, daß in den Compendien der Naturgeschichte bei
jeder Gelegenheit aus die Weisheit Gottes aufmerksam gemacht wurde, der Alles
so eingerichtet habe, daß der Mensch Vergnügen und Nutzen daraus schöpfen
könne. Zwar kam diese Lehre von der "besten Welt" öfters in Verlegenheit, wenn
einmal ein Erdbeben irgend eine volkreiche Stadt zerstörte, aber dann war der
Egoismus der Phantasie sofort bei der Hand, auf das Jenseits zu deuten, in wel¬
chem sich zeigen würde, daß anch das Erdbeben von Lissabon zum Besten der Men¬
schen gewesen sei, denen Gott jedes Haar auf dem Haupte zähle.

Als eine natürliche Reaction gegen diese Selbstgenügsamkeit haben im vori¬
gen Jahrhundert die Mathematiker und Astronomen ans die Unendlichkeit der Welt
aufmerksam gemacht, in welcher die Erde, daS Wohnhaus der Menschen, nur ein eben
solches Atom sei, als der Mensch auf seiner Erde. Voltaire construirte in seinem
Candide im Gegensatz zu Leibnitz'eus prästabilirter Harmonie die schlechteste Welt,
d. h. die Natur, die auf die vernünftigen und unvernünftigen Wünsch" des endli¬
chen Menschen keine Rücksicht nimmt, sondern in kalter Nothwendigkeit, ein ewig


Nach einem langen Leben voll rastloser, unermüdlicher Thätigkeit, einem nach
allen Seiten hin gerichteten und doch stets klaren und selbstbewußten Streben,
am Abende seiner Tage die wunderbaren Schätze, welche der rastlose Drang des mensch¬
lichen Geistes aufgespeichert hat, zu übersehen, zu ordnen, zu gestalten und diese
Welt der Räthsel und der Fragen, in der nur der Adlerblick der höchsten Wissen¬
schaft sich zu Hause finden kann, in einem anmuthigen Gemälde der Menge hinzu¬
stellen, die nur mit geheimer Scheu sich dem Allerheiligsten des Gedankens zu nahen
wagt — wahrlich, das ist ein Abschluß des Lebens, bei dem wir fragen könnten,
ob wir mehr unser eigenes Glück, die nur seine Früchte einernten, oder das des
Greises preisen sollen, dem er zu Theil wurde; das ist ein Ziel, für das es werth
ist, gelebt zu haben.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Aufgabe, die der große Naturforscher
sich gestellt.

Der Gegenstand seiner Darstellungen ist, was wir Natur nennen; indem er
diesen Namen vermied, hatte er die bestimmte Absicht, den scheinbaren Gegensatz
aufzuheben, in den der menschliche Geist sich zu dem Weltganzen, das er außer
sich sieht, gestellt hat. Er ist in diesem Bestreben in Einklang mit der gesammten
neuen Philosophie, oder sagen wir geradezu, der Wissenschaft überhaupt.

Der menschliche Egoismus nämlich, im Bunde mit der Phantasie, hat den Geist
— das menschliche Wesen — als ein außerhalb und über der Natur stehendes
Wesen sich ausgedichtet; er hat das höchste Wesen mit allen möglichen mensch¬
lichen Vollkommenheiten ausgestattet, und dafür die Natur, den Gegensatz deS
Geistes, aller eigenthümlichen Herrlichkeit entkleidet, da Alles, was die mensch¬
liche Idee Großes und Schönes auffassen oder sich ausdenken konnte, dazu ver-
braucht wurde, das Jenseits auszustatten.

Es ist noch nicht lange her, daß in den Compendien der Naturgeschichte bei
jeder Gelegenheit aus die Weisheit Gottes aufmerksam gemacht wurde, der Alles
so eingerichtet habe, daß der Mensch Vergnügen und Nutzen daraus schöpfen
könne. Zwar kam diese Lehre von der „besten Welt" öfters in Verlegenheit, wenn
einmal ein Erdbeben irgend eine volkreiche Stadt zerstörte, aber dann war der
Egoismus der Phantasie sofort bei der Hand, auf das Jenseits zu deuten, in wel¬
chem sich zeigen würde, daß anch das Erdbeben von Lissabon zum Besten der Men¬
schen gewesen sei, denen Gott jedes Haar auf dem Haupte zähle.

Als eine natürliche Reaction gegen diese Selbstgenügsamkeit haben im vori¬
gen Jahrhundert die Mathematiker und Astronomen ans die Unendlichkeit der Welt
aufmerksam gemacht, in welcher die Erde, daS Wohnhaus der Menschen, nur ein eben
solches Atom sei, als der Mensch auf seiner Erde. Voltaire construirte in seinem
Candide im Gegensatz zu Leibnitz'eus prästabilirter Harmonie die schlechteste Welt,
d. h. die Natur, die auf die vernünftigen und unvernünftigen Wünsch« des endli¬
chen Menschen keine Rücksicht nimmt, sondern in kalter Nothwendigkeit, ein ewig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185086"/>
          <p xml:id="ID_1075"> Nach einem langen Leben voll rastloser, unermüdlicher Thätigkeit, einem nach<lb/>
allen Seiten hin gerichteten und doch stets klaren und selbstbewußten Streben,<lb/>
am Abende seiner Tage die wunderbaren Schätze, welche der rastlose Drang des mensch¬<lb/>
lichen Geistes aufgespeichert hat, zu übersehen, zu ordnen, zu gestalten und diese<lb/>
Welt der Räthsel und der Fragen, in der nur der Adlerblick der höchsten Wissen¬<lb/>
schaft sich zu Hause finden kann, in einem anmuthigen Gemälde der Menge hinzu¬<lb/>
stellen, die nur mit geheimer Scheu sich dem Allerheiligsten des Gedankens zu nahen<lb/>
wagt &#x2014; wahrlich, das ist ein Abschluß des Lebens, bei dem wir fragen könnten,<lb/>
ob wir mehr unser eigenes Glück, die nur seine Früchte einernten, oder das des<lb/>
Greises preisen sollen, dem er zu Theil wurde; das ist ein Ziel, für das es werth<lb/>
ist, gelebt zu haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1076"> Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Aufgabe, die der große Naturforscher<lb/>
sich gestellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1077"> Der Gegenstand seiner Darstellungen ist, was wir Natur nennen; indem er<lb/>
diesen Namen vermied, hatte er die bestimmte Absicht, den scheinbaren Gegensatz<lb/>
aufzuheben, in den der menschliche Geist sich zu dem Weltganzen, das er außer<lb/>
sich sieht, gestellt hat. Er ist in diesem Bestreben in Einklang mit der gesammten<lb/>
neuen Philosophie, oder sagen wir geradezu, der Wissenschaft überhaupt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1078"> Der menschliche Egoismus nämlich, im Bunde mit der Phantasie, hat den Geist<lb/>
&#x2014; das menschliche Wesen &#x2014; als ein außerhalb und über der Natur stehendes<lb/>
Wesen sich ausgedichtet; er hat das höchste Wesen mit allen möglichen mensch¬<lb/>
lichen Vollkommenheiten ausgestattet, und dafür die Natur, den Gegensatz deS<lb/>
Geistes, aller eigenthümlichen Herrlichkeit entkleidet, da Alles, was die mensch¬<lb/>
liche Idee Großes und Schönes auffassen oder sich ausdenken konnte, dazu ver-<lb/>
braucht wurde, das Jenseits auszustatten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1079"> Es ist noch nicht lange her, daß in den Compendien der Naturgeschichte bei<lb/>
jeder Gelegenheit aus die Weisheit Gottes aufmerksam gemacht wurde, der Alles<lb/>
so eingerichtet habe, daß der Mensch Vergnügen und Nutzen daraus schöpfen<lb/>
könne. Zwar kam diese Lehre von der &#x201E;besten Welt" öfters in Verlegenheit, wenn<lb/>
einmal ein Erdbeben irgend eine volkreiche Stadt zerstörte, aber dann war der<lb/>
Egoismus der Phantasie sofort bei der Hand, auf das Jenseits zu deuten, in wel¬<lb/>
chem sich zeigen würde, daß anch das Erdbeben von Lissabon zum Besten der Men¬<lb/>
schen gewesen sei, denen Gott jedes Haar auf dem Haupte zähle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1080" next="#ID_1081"> Als eine natürliche Reaction gegen diese Selbstgenügsamkeit haben im vori¬<lb/>
gen Jahrhundert die Mathematiker und Astronomen ans die Unendlichkeit der Welt<lb/>
aufmerksam gemacht, in welcher die Erde, daS Wohnhaus der Menschen, nur ein eben<lb/>
solches Atom sei, als der Mensch auf seiner Erde. Voltaire construirte in seinem<lb/>
Candide im Gegensatz zu Leibnitz'eus prästabilirter Harmonie die schlechteste Welt,<lb/>
d. h. die Natur, die auf die vernünftigen und unvernünftigen Wünsch« des endli¬<lb/>
chen Menschen keine Rücksicht nimmt, sondern in kalter Nothwendigkeit, ein ewig</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0322] Nach einem langen Leben voll rastloser, unermüdlicher Thätigkeit, einem nach allen Seiten hin gerichteten und doch stets klaren und selbstbewußten Streben, am Abende seiner Tage die wunderbaren Schätze, welche der rastlose Drang des mensch¬ lichen Geistes aufgespeichert hat, zu übersehen, zu ordnen, zu gestalten und diese Welt der Räthsel und der Fragen, in der nur der Adlerblick der höchsten Wissen¬ schaft sich zu Hause finden kann, in einem anmuthigen Gemälde der Menge hinzu¬ stellen, die nur mit geheimer Scheu sich dem Allerheiligsten des Gedankens zu nahen wagt — wahrlich, das ist ein Abschluß des Lebens, bei dem wir fragen könnten, ob wir mehr unser eigenes Glück, die nur seine Früchte einernten, oder das des Greises preisen sollen, dem er zu Theil wurde; das ist ein Ziel, für das es werth ist, gelebt zu haben. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Aufgabe, die der große Naturforscher sich gestellt. Der Gegenstand seiner Darstellungen ist, was wir Natur nennen; indem er diesen Namen vermied, hatte er die bestimmte Absicht, den scheinbaren Gegensatz aufzuheben, in den der menschliche Geist sich zu dem Weltganzen, das er außer sich sieht, gestellt hat. Er ist in diesem Bestreben in Einklang mit der gesammten neuen Philosophie, oder sagen wir geradezu, der Wissenschaft überhaupt. Der menschliche Egoismus nämlich, im Bunde mit der Phantasie, hat den Geist — das menschliche Wesen — als ein außerhalb und über der Natur stehendes Wesen sich ausgedichtet; er hat das höchste Wesen mit allen möglichen mensch¬ lichen Vollkommenheiten ausgestattet, und dafür die Natur, den Gegensatz deS Geistes, aller eigenthümlichen Herrlichkeit entkleidet, da Alles, was die mensch¬ liche Idee Großes und Schönes auffassen oder sich ausdenken konnte, dazu ver- braucht wurde, das Jenseits auszustatten. Es ist noch nicht lange her, daß in den Compendien der Naturgeschichte bei jeder Gelegenheit aus die Weisheit Gottes aufmerksam gemacht wurde, der Alles so eingerichtet habe, daß der Mensch Vergnügen und Nutzen daraus schöpfen könne. Zwar kam diese Lehre von der „besten Welt" öfters in Verlegenheit, wenn einmal ein Erdbeben irgend eine volkreiche Stadt zerstörte, aber dann war der Egoismus der Phantasie sofort bei der Hand, auf das Jenseits zu deuten, in wel¬ chem sich zeigen würde, daß anch das Erdbeben von Lissabon zum Besten der Men¬ schen gewesen sei, denen Gott jedes Haar auf dem Haupte zähle. Als eine natürliche Reaction gegen diese Selbstgenügsamkeit haben im vori¬ gen Jahrhundert die Mathematiker und Astronomen ans die Unendlichkeit der Welt aufmerksam gemacht, in welcher die Erde, daS Wohnhaus der Menschen, nur ein eben solches Atom sei, als der Mensch auf seiner Erde. Voltaire construirte in seinem Candide im Gegensatz zu Leibnitz'eus prästabilirter Harmonie die schlechteste Welt, d. h. die Natur, die auf die vernünftigen und unvernünftigen Wünsch« des endli¬ chen Menschen keine Rücksicht nimmt, sondern in kalter Nothwendigkeit, ein ewig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/322
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/322>, abgerufen am 22.07.2024.