Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihr Inhalt nicht wenigstens zur Wahrscheinlichkeit gesteigert wird, hat sie nicht die
geringste Folge. Was rechtfertigt das Gericht den Inhalt der Angabe, der völlig
umnotivirten Angabe in der Conduitenliste?

Die Last des Beweises, welche ans dem liegt, der behauptet, ist der Schutz
Jedermanns gegen die Zumuthung irgend eines Andern. Dieses Schutzes geht
der Beamte verlustig.

Dennoch ist in den mehrsten Fällen nicht sehr schwer, den Beweis einer An¬
schuldigung zu führen, die Gründe eines Verdachtes anzugeben. Eine pflichtwi¬
drige oder verdächtige Benehmungsweise muß wahrnehmbar gewesen sein. Die
Pflichtverletzung muß, wenn nicht in sträflichen, doch immer in ordnungswidrigen
Handlungen bestanden haben. Einem Verdacht müssen Thatsachen vorhergegangen
sein, welche geeignet waren das Zutrauen zwischen Dienstherrn und Diener zu
erschüttern. Thatsachen ereignen sich im Raum und in der Zeit. Die Erinnerung
an sie kann mit Leichtigkeit festgehalten werden.

Ungleich schwerer, unter Umständen sogar unmöglich ist die Widerlegung ei¬
ner Anschuldigung, welche ohne Begründung vorgebracht wurde. Falls meine Ta¬
lente mittelmäßig, meine Kenntnisse oberflächlich, meine Arbeiten unzuverlässig ge¬
nannt werden, müssen sehr günstige Umstände eintreten, wenn ich im Stande sein
soll den Beweis zu führen, daß ich vorzüglich, gründlich, verläßlich bin. In ge¬
gebenen Fällen müßte ich zu neuen Prüfungen, zu Probearbeiten zugelassen wer¬
den; meine Obern und ich müßten außerordentlichen Controlen unterworfen wer¬
den. Aber derlei Weitläufigkeiten können nicht statthaben. Viele Leute bewei¬
sen, daß sie bestohlen wurden. Wenn sie im umgekehrten Fall beweisen sollten, daß
sie nicht gestohlen haben, wie wollten sie das anfangen? Darum hielten seit alters-
her die Gerichte den Anzeiger zum Bewei.se seiner Anschuldigung an, nicht aber
den Beschuldigten zum Beweise seiner Schuldlosigkeit.

Die Conduitenliste gibt dem Vorgesetzten Gelegenheit, den ihm untergebenen
Beamten auf zweifache Weise zu verletzen. Einmal, indem er einen Nebenmann
über Gebühr hervorhebt. Auf andre Art, indem er den Beamten nachtheilig oder
ans eine Weise schildert, welche ihn, entgegen andern Schilderungen, in Schatten
stellt. Die letzte Benachtheiligung tritt häufig unabhängig von dem Willen des
Vorgesetzten ein. Er weiß nicht so eindringlich zu empfehlen, als andere Amts-
Vorsteher es in der Macht haben.

Es wird vorausgesetzt, daß der Amtsvorsteher immer wahr sei, daß er in
Allem richtig urtheile, daß die Thatsachen, auf welche er seine Schlüsse gründet,
immer objectiv richtig seien. Es ist aber eine mißliche Sache, von der Ehrlichkeit,
der Unparteilichkeit der Beurtheilung eines Andern abzuhängen. Jedenfalls ist mit
dieser Abhängigkeit das Recht verloren, vor der Verletzung eines Andern sicher zu
sein. Davon völlig abgesehen, gibt es keine zwei Menschen, die eine Anzahl Leute
leben und weben sehen, ohne sich von ihnen abweichende Begriffe zu machen.


ihr Inhalt nicht wenigstens zur Wahrscheinlichkeit gesteigert wird, hat sie nicht die
geringste Folge. Was rechtfertigt das Gericht den Inhalt der Angabe, der völlig
umnotivirten Angabe in der Conduitenliste?

Die Last des Beweises, welche ans dem liegt, der behauptet, ist der Schutz
Jedermanns gegen die Zumuthung irgend eines Andern. Dieses Schutzes geht
der Beamte verlustig.

Dennoch ist in den mehrsten Fällen nicht sehr schwer, den Beweis einer An¬
schuldigung zu führen, die Gründe eines Verdachtes anzugeben. Eine pflichtwi¬
drige oder verdächtige Benehmungsweise muß wahrnehmbar gewesen sein. Die
Pflichtverletzung muß, wenn nicht in sträflichen, doch immer in ordnungswidrigen
Handlungen bestanden haben. Einem Verdacht müssen Thatsachen vorhergegangen
sein, welche geeignet waren das Zutrauen zwischen Dienstherrn und Diener zu
erschüttern. Thatsachen ereignen sich im Raum und in der Zeit. Die Erinnerung
an sie kann mit Leichtigkeit festgehalten werden.

Ungleich schwerer, unter Umständen sogar unmöglich ist die Widerlegung ei¬
ner Anschuldigung, welche ohne Begründung vorgebracht wurde. Falls meine Ta¬
lente mittelmäßig, meine Kenntnisse oberflächlich, meine Arbeiten unzuverlässig ge¬
nannt werden, müssen sehr günstige Umstände eintreten, wenn ich im Stande sein
soll den Beweis zu führen, daß ich vorzüglich, gründlich, verläßlich bin. In ge¬
gebenen Fällen müßte ich zu neuen Prüfungen, zu Probearbeiten zugelassen wer¬
den; meine Obern und ich müßten außerordentlichen Controlen unterworfen wer¬
den. Aber derlei Weitläufigkeiten können nicht statthaben. Viele Leute bewei¬
sen, daß sie bestohlen wurden. Wenn sie im umgekehrten Fall beweisen sollten, daß
sie nicht gestohlen haben, wie wollten sie das anfangen? Darum hielten seit alters-
her die Gerichte den Anzeiger zum Bewei.se seiner Anschuldigung an, nicht aber
den Beschuldigten zum Beweise seiner Schuldlosigkeit.

Die Conduitenliste gibt dem Vorgesetzten Gelegenheit, den ihm untergebenen
Beamten auf zweifache Weise zu verletzen. Einmal, indem er einen Nebenmann
über Gebühr hervorhebt. Auf andre Art, indem er den Beamten nachtheilig oder
ans eine Weise schildert, welche ihn, entgegen andern Schilderungen, in Schatten
stellt. Die letzte Benachtheiligung tritt häufig unabhängig von dem Willen des
Vorgesetzten ein. Er weiß nicht so eindringlich zu empfehlen, als andere Amts-
Vorsteher es in der Macht haben.

Es wird vorausgesetzt, daß der Amtsvorsteher immer wahr sei, daß er in
Allem richtig urtheile, daß die Thatsachen, auf welche er seine Schlüsse gründet,
immer objectiv richtig seien. Es ist aber eine mißliche Sache, von der Ehrlichkeit,
der Unparteilichkeit der Beurtheilung eines Andern abzuhängen. Jedenfalls ist mit
dieser Abhängigkeit das Recht verloren, vor der Verletzung eines Andern sicher zu
sein. Davon völlig abgesehen, gibt es keine zwei Menschen, die eine Anzahl Leute
leben und weben sehen, ohne sich von ihnen abweichende Begriffe zu machen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185043"/>
          <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> ihr Inhalt nicht wenigstens zur Wahrscheinlichkeit gesteigert wird, hat sie nicht die<lb/>
geringste Folge. Was rechtfertigt das Gericht den Inhalt der Angabe, der völlig<lb/>
umnotivirten Angabe in der Conduitenliste?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_918"> Die Last des Beweises, welche ans dem liegt, der behauptet, ist der Schutz<lb/>
Jedermanns gegen die Zumuthung irgend eines Andern. Dieses Schutzes geht<lb/>
der Beamte verlustig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_919"> Dennoch ist in den mehrsten Fällen nicht sehr schwer, den Beweis einer An¬<lb/>
schuldigung zu führen, die Gründe eines Verdachtes anzugeben. Eine pflichtwi¬<lb/>
drige oder verdächtige Benehmungsweise muß wahrnehmbar gewesen sein. Die<lb/>
Pflichtverletzung muß, wenn nicht in sträflichen, doch immer in ordnungswidrigen<lb/>
Handlungen bestanden haben. Einem Verdacht müssen Thatsachen vorhergegangen<lb/>
sein, welche geeignet waren das Zutrauen zwischen Dienstherrn und Diener zu<lb/>
erschüttern. Thatsachen ereignen sich im Raum und in der Zeit. Die Erinnerung<lb/>
an sie kann mit Leichtigkeit festgehalten werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_920"> Ungleich schwerer, unter Umständen sogar unmöglich ist die Widerlegung ei¬<lb/>
ner Anschuldigung, welche ohne Begründung vorgebracht wurde. Falls meine Ta¬<lb/>
lente mittelmäßig, meine Kenntnisse oberflächlich, meine Arbeiten unzuverlässig ge¬<lb/>
nannt werden, müssen sehr günstige Umstände eintreten, wenn ich im Stande sein<lb/>
soll den Beweis zu führen, daß ich vorzüglich, gründlich, verläßlich bin. In ge¬<lb/>
gebenen Fällen müßte ich zu neuen Prüfungen, zu Probearbeiten zugelassen wer¬<lb/>
den; meine Obern und ich müßten außerordentlichen Controlen unterworfen wer¬<lb/>
den. Aber derlei Weitläufigkeiten können nicht statthaben. Viele Leute bewei¬<lb/>
sen, daß sie bestohlen wurden. Wenn sie im umgekehrten Fall beweisen sollten, daß<lb/>
sie nicht gestohlen haben, wie wollten sie das anfangen? Darum hielten seit alters-<lb/>
her die Gerichte den Anzeiger zum Bewei.se seiner Anschuldigung an, nicht aber<lb/>
den Beschuldigten zum Beweise seiner Schuldlosigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_921"> Die Conduitenliste gibt dem Vorgesetzten Gelegenheit, den ihm untergebenen<lb/>
Beamten auf zweifache Weise zu verletzen. Einmal, indem er einen Nebenmann<lb/>
über Gebühr hervorhebt. Auf andre Art, indem er den Beamten nachtheilig oder<lb/>
ans eine Weise schildert, welche ihn, entgegen andern Schilderungen, in Schatten<lb/>
stellt. Die letzte Benachtheiligung tritt häufig unabhängig von dem Willen des<lb/>
Vorgesetzten ein. Er weiß nicht so eindringlich zu empfehlen, als andere Amts-<lb/>
Vorsteher es in der Macht haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_922" next="#ID_923"> Es wird vorausgesetzt, daß der Amtsvorsteher immer wahr sei, daß er in<lb/>
Allem richtig urtheile, daß die Thatsachen, auf welche er seine Schlüsse gründet,<lb/>
immer objectiv richtig seien. Es ist aber eine mißliche Sache, von der Ehrlichkeit,<lb/>
der Unparteilichkeit der Beurtheilung eines Andern abzuhängen. Jedenfalls ist mit<lb/>
dieser Abhängigkeit das Recht verloren, vor der Verletzung eines Andern sicher zu<lb/>
sein. Davon völlig abgesehen, gibt es keine zwei Menschen, die eine Anzahl Leute<lb/>
leben und weben sehen, ohne sich von ihnen abweichende Begriffe zu machen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0279] ihr Inhalt nicht wenigstens zur Wahrscheinlichkeit gesteigert wird, hat sie nicht die geringste Folge. Was rechtfertigt das Gericht den Inhalt der Angabe, der völlig umnotivirten Angabe in der Conduitenliste? Die Last des Beweises, welche ans dem liegt, der behauptet, ist der Schutz Jedermanns gegen die Zumuthung irgend eines Andern. Dieses Schutzes geht der Beamte verlustig. Dennoch ist in den mehrsten Fällen nicht sehr schwer, den Beweis einer An¬ schuldigung zu führen, die Gründe eines Verdachtes anzugeben. Eine pflichtwi¬ drige oder verdächtige Benehmungsweise muß wahrnehmbar gewesen sein. Die Pflichtverletzung muß, wenn nicht in sträflichen, doch immer in ordnungswidrigen Handlungen bestanden haben. Einem Verdacht müssen Thatsachen vorhergegangen sein, welche geeignet waren das Zutrauen zwischen Dienstherrn und Diener zu erschüttern. Thatsachen ereignen sich im Raum und in der Zeit. Die Erinnerung an sie kann mit Leichtigkeit festgehalten werden. Ungleich schwerer, unter Umständen sogar unmöglich ist die Widerlegung ei¬ ner Anschuldigung, welche ohne Begründung vorgebracht wurde. Falls meine Ta¬ lente mittelmäßig, meine Kenntnisse oberflächlich, meine Arbeiten unzuverlässig ge¬ nannt werden, müssen sehr günstige Umstände eintreten, wenn ich im Stande sein soll den Beweis zu führen, daß ich vorzüglich, gründlich, verläßlich bin. In ge¬ gebenen Fällen müßte ich zu neuen Prüfungen, zu Probearbeiten zugelassen wer¬ den; meine Obern und ich müßten außerordentlichen Controlen unterworfen wer¬ den. Aber derlei Weitläufigkeiten können nicht statthaben. Viele Leute bewei¬ sen, daß sie bestohlen wurden. Wenn sie im umgekehrten Fall beweisen sollten, daß sie nicht gestohlen haben, wie wollten sie das anfangen? Darum hielten seit alters- her die Gerichte den Anzeiger zum Bewei.se seiner Anschuldigung an, nicht aber den Beschuldigten zum Beweise seiner Schuldlosigkeit. Die Conduitenliste gibt dem Vorgesetzten Gelegenheit, den ihm untergebenen Beamten auf zweifache Weise zu verletzen. Einmal, indem er einen Nebenmann über Gebühr hervorhebt. Auf andre Art, indem er den Beamten nachtheilig oder ans eine Weise schildert, welche ihn, entgegen andern Schilderungen, in Schatten stellt. Die letzte Benachtheiligung tritt häufig unabhängig von dem Willen des Vorgesetzten ein. Er weiß nicht so eindringlich zu empfehlen, als andere Amts- Vorsteher es in der Macht haben. Es wird vorausgesetzt, daß der Amtsvorsteher immer wahr sei, daß er in Allem richtig urtheile, daß die Thatsachen, auf welche er seine Schlüsse gründet, immer objectiv richtig seien. Es ist aber eine mißliche Sache, von der Ehrlichkeit, der Unparteilichkeit der Beurtheilung eines Andern abzuhängen. Jedenfalls ist mit dieser Abhängigkeit das Recht verloren, vor der Verletzung eines Andern sicher zu sein. Davon völlig abgesehen, gibt es keine zwei Menschen, die eine Anzahl Leute leben und weben sehen, ohne sich von ihnen abweichende Begriffe zu machen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/279
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/279>, abgerufen am 22.07.2024.