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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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dennoch ist es (seit dem Siebenkäs, in dem Jean Paul das Recht der genialen Subjec-
tivität, die sich viel zu gut hält für die Welt, und doch nichts ist, als die sittliche
Ohnmacht, die Grillenhaftigkeit, die sich der Cultur entzieht) mit aller Anmaßung und
Keckheit der damalige" Romantik den sittlichen Gesetzen entgegenstellt werden. Seitdem
hat in Deutschland die bekannte Gräfin, die noch immer den Rechten sucht, haben in
Frankreich die Hälfte der socialen Romanschreiber dieses Thema mit großer Virtuosität
Variirt; ich denke, mir hätten vorläufig genug davon. Therese ist bei weitem sittlicher,
als ihre hochgeborene Nebenbuhlerin: eine Dame und ein Oberlehrer, schöne Seelen, die
einander versteh", sind beide in Verhältnisse verwickelt: sie mit einem unmoralischen
Baron, er mit einem Gänschen; sie wissen, daß sie unglücklich werden müssen, dennoch
heirathen sie -- warum? aus Pflichtgefühl. Aber dies Pflichtgefühl ist abstract, und erschöpft
sich in dem einmaligen Entschluß. Das verkehrte Verhältniß mit Ausdauer und durch
die geistige Ueberlegenheit, die der Genialität doch eigentlich zukommen sollte, zurecht
zu wirken, haben sie keine Energie. -- Auch das "Stilleben" behandelt das Thema
der Entsagung, und schildert außerdem einen Grafen, der mit einem Bürgerlichen auf
Du und Du ist, obgleich dieser den schändlichen Namen Müller sührt. Freilich ist
nicht zu vergessen, daß Herr Müller einen genialen Bart, Sammtrock und ein geistrei¬
ches Barett trägt. Müller liebte ein Mädchen, welches ihn wieder liebte, aber nicht
heirathete -- der Grund ist nicht recht deutlich --; sie heirathet den Grasen, eine
Bürgerliche!! freilich führt sie der Graf unter dem Namen einer französischen Baronesse
auf-- gesteht ihm aber zugleich, daß sie einen Andern liebt. Müller verläßt das Schloß,
auf dem der Graf ihm freie Wohnung während seiner Auscultatur angeboten, und die
Gräfin lächelt dem abreisenden Sammtrock nebst Barett und Schnurrbart schmerzlich
nach. -- Von W. Alexis ist eine Novelle: Die Flucht nach Amerika, gut erzählt,
wie wir es von ihm gewohnt sind; aber es kommen nur lauter Spitzbuben darin vor,
und zwar Spitzbuben der gemeinsten Art, mit Ausnahme eines in der Form eines Wei¬
bes Fleisch gewordenen Engels. Daß es bei einer Menge Spitzbuben, die noch dazu
auf einem zerbrechlichen Schiff aus dem Ocean zusammengedrängt sind, an Greuelthaten
nicht fehlen wird, läßt sich erwarten. -- Levin Schücking hat in einer Erzählung:
Die Schwester, die in der Zeit der Emigration spielt, alles Wunderliche aufgeboten,
was man billigerweise in einem so engen Rahmen verlangen kann. Ein adeliges Haus
ist zerfallen, theils wegen großer Schuldenmasse, theils weil der Vater als Jacobiner
auf die Festung geschickt ist. Der Sohn, sehr aristokratisch gesinnt, wandert aus, um
>,der Lankastre hochstrcbend Blut" in der Fremde zum Steigen zu bringen, und heira->
thet dort in seiner Qualität als deutscher Baron eine steinreiche Kaufmannstochter, die
übrigens während der ganzen Geschichte nichts sagt, als: O! -- aber auf holländisch,
und mit variabler Betonung. Die Tochter lebt auf dem alten Gut fort, das aber
nicht mehr ihr gehört, in ziemlicher Armuth; da schreibt der Bruder, vou dem sie seit
Jahren nichts gehört, er wolle seiner neuen Fran die Herrlichkeiten der alten Baronie
zeigen, sie sollte die Zimmer stattlich ausputzen; von dieser Nachricht meuchlings über-
rascht, legt sie sich auf Wilddieberei, um der Schwägerin wenigstens Hasen vorzusetzen;
sie wird dabei fast vom Förster nrrctirt; dieser denkt aber humaner als ihr Bruder,
der weit entfernt, ihre große Aufmerksamkeit zu würdige", nichts eiliger zu thun wnß,
als sie an den Grafen von Artois zu verkuppeln, um durch dessen Vermittelung sur
Stammschloß wieder zu erhalten. Als dies fehlschlägt, reist er beschämt ab. und Leo-
nore wird mit dem wohlgesinnten Förster verheirathet, wozu der jacobinische Baron,
durch Artois aus seiner Haft befreit, mit Freuden seine Zustimmung gibt. -- Der in-


dennoch ist es (seit dem Siebenkäs, in dem Jean Paul das Recht der genialen Subjec-
tivität, die sich viel zu gut hält für die Welt, und doch nichts ist, als die sittliche
Ohnmacht, die Grillenhaftigkeit, die sich der Cultur entzieht) mit aller Anmaßung und
Keckheit der damalige« Romantik den sittlichen Gesetzen entgegenstellt werden. Seitdem
hat in Deutschland die bekannte Gräfin, die noch immer den Rechten sucht, haben in
Frankreich die Hälfte der socialen Romanschreiber dieses Thema mit großer Virtuosität
Variirt; ich denke, mir hätten vorläufig genug davon. Therese ist bei weitem sittlicher,
als ihre hochgeborene Nebenbuhlerin: eine Dame und ein Oberlehrer, schöne Seelen, die
einander versteh», sind beide in Verhältnisse verwickelt: sie mit einem unmoralischen
Baron, er mit einem Gänschen; sie wissen, daß sie unglücklich werden müssen, dennoch
heirathen sie — warum? aus Pflichtgefühl. Aber dies Pflichtgefühl ist abstract, und erschöpft
sich in dem einmaligen Entschluß. Das verkehrte Verhältniß mit Ausdauer und durch
die geistige Ueberlegenheit, die der Genialität doch eigentlich zukommen sollte, zurecht
zu wirken, haben sie keine Energie. — Auch das „Stilleben" behandelt das Thema
der Entsagung, und schildert außerdem einen Grafen, der mit einem Bürgerlichen auf
Du und Du ist, obgleich dieser den schändlichen Namen Müller sührt. Freilich ist
nicht zu vergessen, daß Herr Müller einen genialen Bart, Sammtrock und ein geistrei¬
ches Barett trägt. Müller liebte ein Mädchen, welches ihn wieder liebte, aber nicht
heirathete — der Grund ist nicht recht deutlich —; sie heirathet den Grasen, eine
Bürgerliche!! freilich führt sie der Graf unter dem Namen einer französischen Baronesse
auf— gesteht ihm aber zugleich, daß sie einen Andern liebt. Müller verläßt das Schloß,
auf dem der Graf ihm freie Wohnung während seiner Auscultatur angeboten, und die
Gräfin lächelt dem abreisenden Sammtrock nebst Barett und Schnurrbart schmerzlich
nach. — Von W. Alexis ist eine Novelle: Die Flucht nach Amerika, gut erzählt,
wie wir es von ihm gewohnt sind; aber es kommen nur lauter Spitzbuben darin vor,
und zwar Spitzbuben der gemeinsten Art, mit Ausnahme eines in der Form eines Wei¬
bes Fleisch gewordenen Engels. Daß es bei einer Menge Spitzbuben, die noch dazu
auf einem zerbrechlichen Schiff aus dem Ocean zusammengedrängt sind, an Greuelthaten
nicht fehlen wird, läßt sich erwarten. — Levin Schücking hat in einer Erzählung:
Die Schwester, die in der Zeit der Emigration spielt, alles Wunderliche aufgeboten,
was man billigerweise in einem so engen Rahmen verlangen kann. Ein adeliges Haus
ist zerfallen, theils wegen großer Schuldenmasse, theils weil der Vater als Jacobiner
auf die Festung geschickt ist. Der Sohn, sehr aristokratisch gesinnt, wandert aus, um
>,der Lankastre hochstrcbend Blut" in der Fremde zum Steigen zu bringen, und heira->
thet dort in seiner Qualität als deutscher Baron eine steinreiche Kaufmannstochter, die
übrigens während der ganzen Geschichte nichts sagt, als: O! — aber auf holländisch,
und mit variabler Betonung. Die Tochter lebt auf dem alten Gut fort, das aber
nicht mehr ihr gehört, in ziemlicher Armuth; da schreibt der Bruder, vou dem sie seit
Jahren nichts gehört, er wolle seiner neuen Fran die Herrlichkeiten der alten Baronie
zeigen, sie sollte die Zimmer stattlich ausputzen; von dieser Nachricht meuchlings über-
rascht, legt sie sich auf Wilddieberei, um der Schwägerin wenigstens Hasen vorzusetzen;
sie wird dabei fast vom Förster nrrctirt; dieser denkt aber humaner als ihr Bruder,
der weit entfernt, ihre große Aufmerksamkeit zu würdige», nichts eiliger zu thun wnß,
als sie an den Grafen von Artois zu verkuppeln, um durch dessen Vermittelung sur
Stammschloß wieder zu erhalten. Als dies fehlschlägt, reist er beschämt ab. und Leo-
nore wird mit dem wohlgesinnten Förster verheirathet, wozu der jacobinische Baron,
durch Artois aus seiner Haft befreit, mit Freuden seine Zustimmung gibt. — Der in-


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[0181] dennoch ist es (seit dem Siebenkäs, in dem Jean Paul das Recht der genialen Subjec- tivität, die sich viel zu gut hält für die Welt, und doch nichts ist, als die sittliche Ohnmacht, die Grillenhaftigkeit, die sich der Cultur entzieht) mit aller Anmaßung und Keckheit der damalige« Romantik den sittlichen Gesetzen entgegenstellt werden. Seitdem hat in Deutschland die bekannte Gräfin, die noch immer den Rechten sucht, haben in Frankreich die Hälfte der socialen Romanschreiber dieses Thema mit großer Virtuosität Variirt; ich denke, mir hätten vorläufig genug davon. Therese ist bei weitem sittlicher, als ihre hochgeborene Nebenbuhlerin: eine Dame und ein Oberlehrer, schöne Seelen, die einander versteh», sind beide in Verhältnisse verwickelt: sie mit einem unmoralischen Baron, er mit einem Gänschen; sie wissen, daß sie unglücklich werden müssen, dennoch heirathen sie — warum? aus Pflichtgefühl. Aber dies Pflichtgefühl ist abstract, und erschöpft sich in dem einmaligen Entschluß. Das verkehrte Verhältniß mit Ausdauer und durch die geistige Ueberlegenheit, die der Genialität doch eigentlich zukommen sollte, zurecht zu wirken, haben sie keine Energie. — Auch das „Stilleben" behandelt das Thema der Entsagung, und schildert außerdem einen Grafen, der mit einem Bürgerlichen auf Du und Du ist, obgleich dieser den schändlichen Namen Müller sührt. Freilich ist nicht zu vergessen, daß Herr Müller einen genialen Bart, Sammtrock und ein geistrei¬ ches Barett trägt. Müller liebte ein Mädchen, welches ihn wieder liebte, aber nicht heirathete — der Grund ist nicht recht deutlich —; sie heirathet den Grasen, eine Bürgerliche!! freilich führt sie der Graf unter dem Namen einer französischen Baronesse auf— gesteht ihm aber zugleich, daß sie einen Andern liebt. Müller verläßt das Schloß, auf dem der Graf ihm freie Wohnung während seiner Auscultatur angeboten, und die Gräfin lächelt dem abreisenden Sammtrock nebst Barett und Schnurrbart schmerzlich nach. — Von W. Alexis ist eine Novelle: Die Flucht nach Amerika, gut erzählt, wie wir es von ihm gewohnt sind; aber es kommen nur lauter Spitzbuben darin vor, und zwar Spitzbuben der gemeinsten Art, mit Ausnahme eines in der Form eines Wei¬ bes Fleisch gewordenen Engels. Daß es bei einer Menge Spitzbuben, die noch dazu auf einem zerbrechlichen Schiff aus dem Ocean zusammengedrängt sind, an Greuelthaten nicht fehlen wird, läßt sich erwarten. — Levin Schücking hat in einer Erzählung: Die Schwester, die in der Zeit der Emigration spielt, alles Wunderliche aufgeboten, was man billigerweise in einem so engen Rahmen verlangen kann. Ein adeliges Haus ist zerfallen, theils wegen großer Schuldenmasse, theils weil der Vater als Jacobiner auf die Festung geschickt ist. Der Sohn, sehr aristokratisch gesinnt, wandert aus, um >,der Lankastre hochstrcbend Blut" in der Fremde zum Steigen zu bringen, und heira-> thet dort in seiner Qualität als deutscher Baron eine steinreiche Kaufmannstochter, die übrigens während der ganzen Geschichte nichts sagt, als: O! — aber auf holländisch, und mit variabler Betonung. Die Tochter lebt auf dem alten Gut fort, das aber nicht mehr ihr gehört, in ziemlicher Armuth; da schreibt der Bruder, vou dem sie seit Jahren nichts gehört, er wolle seiner neuen Fran die Herrlichkeiten der alten Baronie zeigen, sie sollte die Zimmer stattlich ausputzen; von dieser Nachricht meuchlings über- rascht, legt sie sich auf Wilddieberei, um der Schwägerin wenigstens Hasen vorzusetzen; sie wird dabei fast vom Förster nrrctirt; dieser denkt aber humaner als ihr Bruder, der weit entfernt, ihre große Aufmerksamkeit zu würdige», nichts eiliger zu thun wnß, als sie an den Grafen von Artois zu verkuppeln, um durch dessen Vermittelung sur Stammschloß wieder zu erhalten. Als dies fehlschlägt, reist er beschämt ab. und Leo- nore wird mit dem wohlgesinnten Förster verheirathet, wozu der jacobinische Baron, durch Artois aus seiner Haft befreit, mit Freuden seine Zustimmung gibt. — Der in-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/181>, abgerufen am 12.12.2024.