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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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denken? Draußen lag die herrliche, fröhliche Gotteswelt, munter rollte
der blaue Strom seine Wellen vor den Fenstern der Studirsäle vorbei,
gegenüber winkten die waldigen Berge mit ihren grünen Schatten --
in den Adern der jungen Burschen strömte ein frisches, fröhliches Blut
-- aber das Blut in den Adern mußte ruhig sein, die Berge winkten
umsonst, und statt mit freier Brust die frischen Berglüfte einzuathmen,
saßen wir im dumpfen Studirsaale und lernten die unregelmäßigen
griechischen Verba. Sie sind sehr schwer und sehr langweilig -- die
griechischen unregelmäßigen Verba, und man kann selig werden, ohne
just sehr fest in ihnen zu sein. Man entbehrt aber einen großen Theil
der Seligkeit, wenn man in spätern Jahren auf keine Jugendlust zu¬
rückschauen kann. Die reinen Freuden, die man bis zum zwanzigsten
Jahre blos in dem bewußtlosen, träumenden Wandeln in der Natur
genießt, sie sind den armen Klosterschülern schmählich gestohlen; denn
man genießt so rein, aber nur ehe mau zwanzig Jahre alt ist. Und
der Zweck dieser Einsperrung? Ich habe schon manchmal mein Gehirn
abgemartert, einen Zweck zu finden -- es geht nicht. Man will die
jungen Leute von dummen Streichen abhalten durch strengste Aufsicht.
DaS ist sonderbar! -- Man zwingt sie zu dummen Streichen durch
knechtische Aufsicht, denn gegen jeden Zwang lehnt sich der Mensch auf;
man bringt Falschheit in ihr Gemüth, denn man nöthigt sie, zu be¬
lügen und zu betrügen, weil man kein Vertrauen in sie setzt, und wenn
es eine Entschuldigung für die Lüge geben kann, so ist es entwürdi¬
gendes Mißtrauen. Und was für Streiche können denn am Ende
junge Burschen machen? Tabak rauchen, Bier trinken, Karten spielen,
wenn es hoch kommt eine Liebeständelei. O der frommen, gelehrten
Leute! Sind sie denn wirklich so dumm, zu glauben, sie könnten die
Jugend einkerkern? Unter ihrer Nase haben wir geraucht, gespielt, ge¬
trunken, bei Tag und bei Nacht, belogen und betrogen haben wir sie
-- und verlacht obendrein.

Jene klostermäfiigc Einrichtung hatte eine ganz eigne Erscheinung
hervorgebracht, das war eine Art von Verfassung unter den Schülern
selbst, welche sowohl ihrer bodenlosen Lächerlichkeit, als ihrer entsetzli¬
chen Unterdrückung der Untern wegen jedenfalls sehr merkwürdig war.
Diese Verfassung war sehr alt und hatte sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht auf der Schule fortgepflanzt, hatte ihre Abänderungen erfahren,
zu Auflehnungen und Empörungen Anlaß gegeben, just wie bei einer
Staatsverfassung. Der Grund ihres Entstehens lag wohl in einem
doppelten Umstände.


denken? Draußen lag die herrliche, fröhliche Gotteswelt, munter rollte
der blaue Strom seine Wellen vor den Fenstern der Studirsäle vorbei,
gegenüber winkten die waldigen Berge mit ihren grünen Schatten —
in den Adern der jungen Burschen strömte ein frisches, fröhliches Blut
— aber das Blut in den Adern mußte ruhig sein, die Berge winkten
umsonst, und statt mit freier Brust die frischen Berglüfte einzuathmen,
saßen wir im dumpfen Studirsaale und lernten die unregelmäßigen
griechischen Verba. Sie sind sehr schwer und sehr langweilig — die
griechischen unregelmäßigen Verba, und man kann selig werden, ohne
just sehr fest in ihnen zu sein. Man entbehrt aber einen großen Theil
der Seligkeit, wenn man in spätern Jahren auf keine Jugendlust zu¬
rückschauen kann. Die reinen Freuden, die man bis zum zwanzigsten
Jahre blos in dem bewußtlosen, träumenden Wandeln in der Natur
genießt, sie sind den armen Klosterschülern schmählich gestohlen; denn
man genießt so rein, aber nur ehe mau zwanzig Jahre alt ist. Und
der Zweck dieser Einsperrung? Ich habe schon manchmal mein Gehirn
abgemartert, einen Zweck zu finden — es geht nicht. Man will die
jungen Leute von dummen Streichen abhalten durch strengste Aufsicht.
DaS ist sonderbar! — Man zwingt sie zu dummen Streichen durch
knechtische Aufsicht, denn gegen jeden Zwang lehnt sich der Mensch auf;
man bringt Falschheit in ihr Gemüth, denn man nöthigt sie, zu be¬
lügen und zu betrügen, weil man kein Vertrauen in sie setzt, und wenn
es eine Entschuldigung für die Lüge geben kann, so ist es entwürdi¬
gendes Mißtrauen. Und was für Streiche können denn am Ende
junge Burschen machen? Tabak rauchen, Bier trinken, Karten spielen,
wenn es hoch kommt eine Liebeständelei. O der frommen, gelehrten
Leute! Sind sie denn wirklich so dumm, zu glauben, sie könnten die
Jugend einkerkern? Unter ihrer Nase haben wir geraucht, gespielt, ge¬
trunken, bei Tag und bei Nacht, belogen und betrogen haben wir sie
— und verlacht obendrein.

Jene klostermäfiigc Einrichtung hatte eine ganz eigne Erscheinung
hervorgebracht, das war eine Art von Verfassung unter den Schülern
selbst, welche sowohl ihrer bodenlosen Lächerlichkeit, als ihrer entsetzli¬
chen Unterdrückung der Untern wegen jedenfalls sehr merkwürdig war.
Diese Verfassung war sehr alt und hatte sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht auf der Schule fortgepflanzt, hatte ihre Abänderungen erfahren,
zu Auflehnungen und Empörungen Anlaß gegeben, just wie bei einer
Staatsverfassung. Der Grund ihres Entstehens lag wohl in einem
doppelten Umstände.


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[0420] denken? Draußen lag die herrliche, fröhliche Gotteswelt, munter rollte der blaue Strom seine Wellen vor den Fenstern der Studirsäle vorbei, gegenüber winkten die waldigen Berge mit ihren grünen Schatten — in den Adern der jungen Burschen strömte ein frisches, fröhliches Blut — aber das Blut in den Adern mußte ruhig sein, die Berge winkten umsonst, und statt mit freier Brust die frischen Berglüfte einzuathmen, saßen wir im dumpfen Studirsaale und lernten die unregelmäßigen griechischen Verba. Sie sind sehr schwer und sehr langweilig — die griechischen unregelmäßigen Verba, und man kann selig werden, ohne just sehr fest in ihnen zu sein. Man entbehrt aber einen großen Theil der Seligkeit, wenn man in spätern Jahren auf keine Jugendlust zu¬ rückschauen kann. Die reinen Freuden, die man bis zum zwanzigsten Jahre blos in dem bewußtlosen, träumenden Wandeln in der Natur genießt, sie sind den armen Klosterschülern schmählich gestohlen; denn man genießt so rein, aber nur ehe mau zwanzig Jahre alt ist. Und der Zweck dieser Einsperrung? Ich habe schon manchmal mein Gehirn abgemartert, einen Zweck zu finden — es geht nicht. Man will die jungen Leute von dummen Streichen abhalten durch strengste Aufsicht. DaS ist sonderbar! — Man zwingt sie zu dummen Streichen durch knechtische Aufsicht, denn gegen jeden Zwang lehnt sich der Mensch auf; man bringt Falschheit in ihr Gemüth, denn man nöthigt sie, zu be¬ lügen und zu betrügen, weil man kein Vertrauen in sie setzt, und wenn es eine Entschuldigung für die Lüge geben kann, so ist es entwürdi¬ gendes Mißtrauen. Und was für Streiche können denn am Ende junge Burschen machen? Tabak rauchen, Bier trinken, Karten spielen, wenn es hoch kommt eine Liebeständelei. O der frommen, gelehrten Leute! Sind sie denn wirklich so dumm, zu glauben, sie könnten die Jugend einkerkern? Unter ihrer Nase haben wir geraucht, gespielt, ge¬ trunken, bei Tag und bei Nacht, belogen und betrogen haben wir sie — und verlacht obendrein. Jene klostermäfiigc Einrichtung hatte eine ganz eigne Erscheinung hervorgebracht, das war eine Art von Verfassung unter den Schülern selbst, welche sowohl ihrer bodenlosen Lächerlichkeit, als ihrer entsetzli¬ chen Unterdrückung der Untern wegen jedenfalls sehr merkwürdig war. Diese Verfassung war sehr alt und hatte sich von Geschlecht zu Ge¬ schlecht auf der Schule fortgepflanzt, hatte ihre Abänderungen erfahren, zu Auflehnungen und Empörungen Anlaß gegeben, just wie bei einer Staatsverfassung. Der Grund ihres Entstehens lag wohl in einem doppelten Umstände.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/420>, abgerufen am 23.07.2024.