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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Da die Schüler ganz von der Außenwelt abgeschnitten und nnr
auf ihr eignes Zusammenleben angewiesen waren, so mochte sich bald
die Nothwendigkeit herausgestellt haben, für dieses Zusammenleben ge¬
wisse Formen zu finden.

Zweitens war es für die Lehrer am Ende eine Unmöglichkeit, die
Schüler fortwährend, in allen Stunden zu beaufsichtigen, und so hat¬
ten sie den Schülern der ersten Abtheilung und dann denen, die auf
den ersten^ Plätzen jeder einzelnen Abtheilung saßen, eine Art Ober¬
aufsicht, ja sogar ein Strafrecht gegeben, welches darin bestand, daß
für kleine Fehler, als Plaudern während des Unterrichts, Unfleifi wäh¬
rend der Arbeitsstunden, Strafaufgaben gegeben werden durften. In
letzter Beziehung beruhte jene Verfassung auf einem rechtlichen Grunde,
und möchte ganz gut gewesen sein, wenn sie nicht mit andern Dingen
vermischt worden wäre, die zu den empörendsten Ungerechtigkeiten ge¬
führt hätte.

Wenn ich diese Verfassung schildern soll, so gerathe ich wirklich
in einige Verlegenheit. Sie war eine Art Polizeiordnung für das
Leben in der Schule, gebaut auf aristokratische Grundzüge oder besser
auf einen indischen Kastengeist. Die verschiedenen Kasten ergeben sich
von selbst, es waren die verschiedenen Abtheilungen, in welche die Schü¬
ler nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen eingetheilt waren. Jede
dieser verschiedenen vier Abtheilungen besaß ihre Rechte, dies war
der Allsdruck für die ganze Sache.

Jenes Oberaufsichtsrecht über die ganze Schule war den zwölf
Ersten und nettesten der Schule übergeben, die Inspektoren hießen und
wochenweis in der Aufsicht abwechselten. Dieses AnfsichtSrecht ward
nun stufenweis folgendermaßen geübt:

Unter die Schüler der ersten Abtheilung, Primaner genannt, hat¬
ten sich die Jnspectoren ihres AufsichtSrechts begeben. Diese durften
thun und treiben, was sie wollten, durften alle Schulgesetze über¬
treten, ohne daß die Inspektoren sie zur Anzeige brachten oder selbst
bestraften. Diese Uebertretungen bestanden nun darin, daß die Pri¬
maner heimlich ausgingen (ausstiegen, weil eine Mauer überklettert
werden mußte), Tabak rauchten, in den Lehr- und Arbeitsstunden Ro¬
mane lasen, Kaffee und Chokolade tranken (Beides war ohne Geneh¬
migung der Lehrer verboten und gehörte deshalb zu unsern Lieblingö-
gcnüssen), des Nachts ausblieben und Punsch machten, in den Arbeits-
stunden ungehindert sprachen, hin und wieder gingen u. tgi. mehr.
Alles das war nach den Schulgesetzen verboten, nach der Schülerver-


Grcnzbvtc". IV. 1et4<>.

Da die Schüler ganz von der Außenwelt abgeschnitten und nnr
auf ihr eignes Zusammenleben angewiesen waren, so mochte sich bald
die Nothwendigkeit herausgestellt haben, für dieses Zusammenleben ge¬
wisse Formen zu finden.

Zweitens war es für die Lehrer am Ende eine Unmöglichkeit, die
Schüler fortwährend, in allen Stunden zu beaufsichtigen, und so hat¬
ten sie den Schülern der ersten Abtheilung und dann denen, die auf
den ersten^ Plätzen jeder einzelnen Abtheilung saßen, eine Art Ober¬
aufsicht, ja sogar ein Strafrecht gegeben, welches darin bestand, daß
für kleine Fehler, als Plaudern während des Unterrichts, Unfleifi wäh¬
rend der Arbeitsstunden, Strafaufgaben gegeben werden durften. In
letzter Beziehung beruhte jene Verfassung auf einem rechtlichen Grunde,
und möchte ganz gut gewesen sein, wenn sie nicht mit andern Dingen
vermischt worden wäre, die zu den empörendsten Ungerechtigkeiten ge¬
führt hätte.

Wenn ich diese Verfassung schildern soll, so gerathe ich wirklich
in einige Verlegenheit. Sie war eine Art Polizeiordnung für das
Leben in der Schule, gebaut auf aristokratische Grundzüge oder besser
auf einen indischen Kastengeist. Die verschiedenen Kasten ergeben sich
von selbst, es waren die verschiedenen Abtheilungen, in welche die Schü¬
ler nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen eingetheilt waren. Jede
dieser verschiedenen vier Abtheilungen besaß ihre Rechte, dies war
der Allsdruck für die ganze Sache.

Jenes Oberaufsichtsrecht über die ganze Schule war den zwölf
Ersten und nettesten der Schule übergeben, die Inspektoren hießen und
wochenweis in der Aufsicht abwechselten. Dieses AnfsichtSrecht ward
nun stufenweis folgendermaßen geübt:

Unter die Schüler der ersten Abtheilung, Primaner genannt, hat¬
ten sich die Jnspectoren ihres AufsichtSrechts begeben. Diese durften
thun und treiben, was sie wollten, durften alle Schulgesetze über¬
treten, ohne daß die Inspektoren sie zur Anzeige brachten oder selbst
bestraften. Diese Uebertretungen bestanden nun darin, daß die Pri¬
maner heimlich ausgingen (ausstiegen, weil eine Mauer überklettert
werden mußte), Tabak rauchten, in den Lehr- und Arbeitsstunden Ro¬
mane lasen, Kaffee und Chokolade tranken (Beides war ohne Geneh¬
migung der Lehrer verboten und gehörte deshalb zu unsern Lieblingö-
gcnüssen), des Nachts ausblieben und Punsch machten, in den Arbeits-
stunden ungehindert sprachen, hin und wieder gingen u. tgi. mehr.
Alles das war nach den Schulgesetzen verboten, nach der Schülerver-


Grcnzbvtc». IV. 1et4<>.
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[0421] Da die Schüler ganz von der Außenwelt abgeschnitten und nnr auf ihr eignes Zusammenleben angewiesen waren, so mochte sich bald die Nothwendigkeit herausgestellt haben, für dieses Zusammenleben ge¬ wisse Formen zu finden. Zweitens war es für die Lehrer am Ende eine Unmöglichkeit, die Schüler fortwährend, in allen Stunden zu beaufsichtigen, und so hat¬ ten sie den Schülern der ersten Abtheilung und dann denen, die auf den ersten^ Plätzen jeder einzelnen Abtheilung saßen, eine Art Ober¬ aufsicht, ja sogar ein Strafrecht gegeben, welches darin bestand, daß für kleine Fehler, als Plaudern während des Unterrichts, Unfleifi wäh¬ rend der Arbeitsstunden, Strafaufgaben gegeben werden durften. In letzter Beziehung beruhte jene Verfassung auf einem rechtlichen Grunde, und möchte ganz gut gewesen sein, wenn sie nicht mit andern Dingen vermischt worden wäre, die zu den empörendsten Ungerechtigkeiten ge¬ führt hätte. Wenn ich diese Verfassung schildern soll, so gerathe ich wirklich in einige Verlegenheit. Sie war eine Art Polizeiordnung für das Leben in der Schule, gebaut auf aristokratische Grundzüge oder besser auf einen indischen Kastengeist. Die verschiedenen Kasten ergeben sich von selbst, es waren die verschiedenen Abtheilungen, in welche die Schü¬ ler nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen eingetheilt waren. Jede dieser verschiedenen vier Abtheilungen besaß ihre Rechte, dies war der Allsdruck für die ganze Sache. Jenes Oberaufsichtsrecht über die ganze Schule war den zwölf Ersten und nettesten der Schule übergeben, die Inspektoren hießen und wochenweis in der Aufsicht abwechselten. Dieses AnfsichtSrecht ward nun stufenweis folgendermaßen geübt: Unter die Schüler der ersten Abtheilung, Primaner genannt, hat¬ ten sich die Jnspectoren ihres AufsichtSrechts begeben. Diese durften thun und treiben, was sie wollten, durften alle Schulgesetze über¬ treten, ohne daß die Inspektoren sie zur Anzeige brachten oder selbst bestraften. Diese Uebertretungen bestanden nun darin, daß die Pri¬ maner heimlich ausgingen (ausstiegen, weil eine Mauer überklettert werden mußte), Tabak rauchten, in den Lehr- und Arbeitsstunden Ro¬ mane lasen, Kaffee und Chokolade tranken (Beides war ohne Geneh¬ migung der Lehrer verboten und gehörte deshalb zu unsern Lieblingö- gcnüssen), des Nachts ausblieben und Punsch machten, in den Arbeits- stunden ungehindert sprachen, hin und wieder gingen u. tgi. mehr. Alles das war nach den Schulgesetzen verboten, nach der Schülerver- Grcnzbvtc». IV. 1et4<>.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/421>, abgerufen am 23.07.2024.