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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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richtetere Schüler herausgingen als aus andern. Weil sie nun alle
den Dünkel haben, auf höherer wissenschaftlicher Stufe zu stehen als
andere, so hat sich daraus der feststehende Gebrauch gebildet, im Fall
ein Schüler von einer Schule zur andern übergeht, demselben einen
mehr oder minder niedrigern Platz anzuweisen, als er in der frühern
Schule hatte, und mit feierlichem Dünkel erzählt man dann: Wir be¬
kamen heute wieder einen Schüler von dem Gymnasium zu X>, der da
in der zweiten Classe sitzt, und wir konnten ihn kaum in die dritte
setzen. Unter diesem Grundsatze mußte auch ich leiden. Ich hatte in
meiner Vaterstadt schon halb und halb den Studenten gespielt, rauchte
mein Pfeifchen und wußte schon so ziemlich mit der Klinge umzugehen
-- hier sah ich mich auf einmal unter die kleinen Jungen versetzt. --
Ich war ein ziemlich hochaufgeschossener Mensch, der Bart sproßte mir
längst um Lippen und Kinn -- und saß unter den Terlianern. Merk¬
würdig, ich kann diesen Eindruck nie los werden, und jetzt, nach fast
zwanzig Jahren, quält mich oft ein und derselbe wiederkehrende Traum,
in welchem ich, schon Vater und Gatte, in die Schule gehen muß.

Ein Jahr hielt ich es aus in dieser Klosterschule. Ich hielt aus,
sage ich, denn es war wirklich eine Marter, dort zu leben. Denken
Sie sich zunächst die Einrichtung der Schule selbst. Diese war förm¬
lich kloftermäßig. In einem großen Gebäude wohnten 120 Schüler
beisammen. Die Einrichtung war folgende: Um halb sechs Uhr ertönte
eine Glocke und weckte. Jetzt ward aufgestanden. Zum Waschen und
Anziehen waren drei Viertelstunden vergönnt. Ein Viertel nach sechs
Uhr ward gebetet und gesungen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen
und sonstige Frömmigkeiten geübt. Dann ging es zum Frühstück. Um
sieben Uhr begann der Unterricht, dauernd bis elf Uhr. Von elf bis
ein Uhr waren Freistunden, um zwölf Uhr Mittagsessen. Von ein
bis drei Uhr Unterricht. Von drei bis sechs Uhr Arbeitsstunden unter
Aufsicht. Um sechs Uhr Abendessen. Dann bis halb acht Uhr Frei¬
stunde. Von halb acht bis neun Uhr Arbeitsstunde. Um neun Uhr
Abendgebet und dann mußten nur zu Bette. Ausgehen war ganz
verboten. Zweimal wöchentlich, ich glaube Dienstags und Freitags,
ward die ganze Heerde unter strengster Aufsicht nach einem eine Stunde
entfernten Dorfe geführt. Im Winter unterblieb auch das. Statt
dessen erhielten Dienstags und Freitags je sechs aus jeder Classe die
Erlaubniß, zwei Stunden spazieren zu gehen. Bei der großen Zahl
der Schüler traf Jeden etwa alle vier Wochen dies glückliche Loos.
Das war etwa die Schulordnung. Kann man sich einen ärgern Zwang


richtetere Schüler herausgingen als aus andern. Weil sie nun alle
den Dünkel haben, auf höherer wissenschaftlicher Stufe zu stehen als
andere, so hat sich daraus der feststehende Gebrauch gebildet, im Fall
ein Schüler von einer Schule zur andern übergeht, demselben einen
mehr oder minder niedrigern Platz anzuweisen, als er in der frühern
Schule hatte, und mit feierlichem Dünkel erzählt man dann: Wir be¬
kamen heute wieder einen Schüler von dem Gymnasium zu X>, der da
in der zweiten Classe sitzt, und wir konnten ihn kaum in die dritte
setzen. Unter diesem Grundsatze mußte auch ich leiden. Ich hatte in
meiner Vaterstadt schon halb und halb den Studenten gespielt, rauchte
mein Pfeifchen und wußte schon so ziemlich mit der Klinge umzugehen
— hier sah ich mich auf einmal unter die kleinen Jungen versetzt. —
Ich war ein ziemlich hochaufgeschossener Mensch, der Bart sproßte mir
längst um Lippen und Kinn — und saß unter den Terlianern. Merk¬
würdig, ich kann diesen Eindruck nie los werden, und jetzt, nach fast
zwanzig Jahren, quält mich oft ein und derselbe wiederkehrende Traum,
in welchem ich, schon Vater und Gatte, in die Schule gehen muß.

Ein Jahr hielt ich es aus in dieser Klosterschule. Ich hielt aus,
sage ich, denn es war wirklich eine Marter, dort zu leben. Denken
Sie sich zunächst die Einrichtung der Schule selbst. Diese war förm¬
lich kloftermäßig. In einem großen Gebäude wohnten 120 Schüler
beisammen. Die Einrichtung war folgende: Um halb sechs Uhr ertönte
eine Glocke und weckte. Jetzt ward aufgestanden. Zum Waschen und
Anziehen waren drei Viertelstunden vergönnt. Ein Viertel nach sechs
Uhr ward gebetet und gesungen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen
und sonstige Frömmigkeiten geübt. Dann ging es zum Frühstück. Um
sieben Uhr begann der Unterricht, dauernd bis elf Uhr. Von elf bis
ein Uhr waren Freistunden, um zwölf Uhr Mittagsessen. Von ein
bis drei Uhr Unterricht. Von drei bis sechs Uhr Arbeitsstunden unter
Aufsicht. Um sechs Uhr Abendessen. Dann bis halb acht Uhr Frei¬
stunde. Von halb acht bis neun Uhr Arbeitsstunde. Um neun Uhr
Abendgebet und dann mußten nur zu Bette. Ausgehen war ganz
verboten. Zweimal wöchentlich, ich glaube Dienstags und Freitags,
ward die ganze Heerde unter strengster Aufsicht nach einem eine Stunde
entfernten Dorfe geführt. Im Winter unterblieb auch das. Statt
dessen erhielten Dienstags und Freitags je sechs aus jeder Classe die
Erlaubniß, zwei Stunden spazieren zu gehen. Bei der großen Zahl
der Schüler traf Jeden etwa alle vier Wochen dies glückliche Loos.
Das war etwa die Schulordnung. Kann man sich einen ärgern Zwang


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[0419] richtetere Schüler herausgingen als aus andern. Weil sie nun alle den Dünkel haben, auf höherer wissenschaftlicher Stufe zu stehen als andere, so hat sich daraus der feststehende Gebrauch gebildet, im Fall ein Schüler von einer Schule zur andern übergeht, demselben einen mehr oder minder niedrigern Platz anzuweisen, als er in der frühern Schule hatte, und mit feierlichem Dünkel erzählt man dann: Wir be¬ kamen heute wieder einen Schüler von dem Gymnasium zu X>, der da in der zweiten Classe sitzt, und wir konnten ihn kaum in die dritte setzen. Unter diesem Grundsatze mußte auch ich leiden. Ich hatte in meiner Vaterstadt schon halb und halb den Studenten gespielt, rauchte mein Pfeifchen und wußte schon so ziemlich mit der Klinge umzugehen — hier sah ich mich auf einmal unter die kleinen Jungen versetzt. — Ich war ein ziemlich hochaufgeschossener Mensch, der Bart sproßte mir längst um Lippen und Kinn — und saß unter den Terlianern. Merk¬ würdig, ich kann diesen Eindruck nie los werden, und jetzt, nach fast zwanzig Jahren, quält mich oft ein und derselbe wiederkehrende Traum, in welchem ich, schon Vater und Gatte, in die Schule gehen muß. Ein Jahr hielt ich es aus in dieser Klosterschule. Ich hielt aus, sage ich, denn es war wirklich eine Marter, dort zu leben. Denken Sie sich zunächst die Einrichtung der Schule selbst. Diese war förm¬ lich kloftermäßig. In einem großen Gebäude wohnten 120 Schüler beisammen. Die Einrichtung war folgende: Um halb sechs Uhr ertönte eine Glocke und weckte. Jetzt ward aufgestanden. Zum Waschen und Anziehen waren drei Viertelstunden vergönnt. Ein Viertel nach sechs Uhr ward gebetet und gesungen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen und sonstige Frömmigkeiten geübt. Dann ging es zum Frühstück. Um sieben Uhr begann der Unterricht, dauernd bis elf Uhr. Von elf bis ein Uhr waren Freistunden, um zwölf Uhr Mittagsessen. Von ein bis drei Uhr Unterricht. Von drei bis sechs Uhr Arbeitsstunden unter Aufsicht. Um sechs Uhr Abendessen. Dann bis halb acht Uhr Frei¬ stunde. Von halb acht bis neun Uhr Arbeitsstunde. Um neun Uhr Abendgebet und dann mußten nur zu Bette. Ausgehen war ganz verboten. Zweimal wöchentlich, ich glaube Dienstags und Freitags, ward die ganze Heerde unter strengster Aufsicht nach einem eine Stunde entfernten Dorfe geführt. Im Winter unterblieb auch das. Statt dessen erhielten Dienstags und Freitags je sechs aus jeder Classe die Erlaubniß, zwei Stunden spazieren zu gehen. Bei der großen Zahl der Schüler traf Jeden etwa alle vier Wochen dies glückliche Loos. Das war etwa die Schulordnung. Kann man sich einen ärgern Zwang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/419>, abgerufen am 26.08.2024.