Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.nem in sich geschlossenen Ganzen zu verarbeiten, das eben ist ja Hat der Darsteller des Pikanten eine Tendenz, so werden die Wenn der Pikante alle die seltsamen und oft brillanten Wun¬ Nun aber tritt sein Halbbruder oder sein eigner Doppelgän¬ Das Interessante ist der gesellschaftsfähige, modisch aufgestützte In der literarischen Form trifft das Pikante und Interessante nem in sich geschlossenen Ganzen zu verarbeiten, das eben ist ja Hat der Darsteller des Pikanten eine Tendenz, so werden die Wenn der Pikante alle die seltsamen und oft brillanten Wun¬ Nun aber tritt sein Halbbruder oder sein eigner Doppelgän¬ Das Interessante ist der gesellschaftsfähige, modisch aufgestützte In der literarischen Form trifft das Pikante und Interessante <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182517"/> <p xml:id="ID_227" prev="#ID_226"> nem in sich geschlossenen Ganzen zu verarbeiten, das eben ist ja<lb/> gerade pikant.</p><lb/> <p xml:id="ID_228"> Hat der Darsteller des Pikanten eine Tendenz, so werden die<lb/> von ihm Verfolgten ihn gewiß am meisten lesen; sie fühlen es dun¬<lb/> kel, daß er sie nur amüsiren und ihnen nichts weiter anhaben kann,<lb/> weil der sittliche Boden fehlt, von dem aus sie allein getroffen<lb/> werden können, weil ihnen nie der heilige Zorn entgegenflammt,<lb/> der ihre vornehme Hohlheit in sich zusammen brechen macht.</p><lb/> <p xml:id="ID_229"> Wenn der Pikante alle die seltsamen und oft brillanten Wun¬<lb/> derlichkeiten seiner Subjectivität ausgebreitet hat, so ist er im Stande<lb/> und wirft zuletzt noch seine Leser, seine Gebilde und sich selber oben<lb/> drein über den Haufen. Er hat keine Liebe, weder zu.sich, noch<lb/> zu seinem Werke, die ihn aufrecht erhält, das wäre ja altväterisch<lb/> und langweilig.</p><lb/> <p xml:id="ID_230"> Nun aber tritt sein Halbbruder oder sein eigner Doppelgän¬<lb/> ger auf, der mit verschränkten Armen, blassen Antlitzes dort an<lb/> eine Säule gelehnt steht, es ist das Interessante.</p><lb/> <p xml:id="ID_231"> Das Interessante ist der gesellschaftsfähige, modisch aufgestützte<lb/> Katzenjammer. Wenn ein Gegenstand, ein Ereigniß, ein Mensch,<lb/> eine vorübergehende Erregung zuwege bringt, ohne dadurch das<lb/> thatenlose Gleichgewicht zu stören, ohne eine tiefere Betheiligung zu er¬<lb/> regen, sondern nur dielahme Maschinerie eine Weile in Gang bringt,<lb/> so nennt man das interessant. Ein leidender Zug ist erforderlich,<lb/> er darf aber nicht so stark sein, um zum wirklichen Mitleiden zu er¬<lb/> regen. Ausgebrannte Wüstlingsnaturcn vorführen, mit dem<lb/> scheinbar nachlässig drapirten Schleier eines Geheimnisses, das<lb/> „enchantirt;" erstorbene Empfindungsleichen noch einmal galvanisi-<lb/> ren, daß sie krampfhaft aufzucken, wie reizend und interessant ist<lb/> basi Zu dem Interessanten gehört nothwendig, daß man nie aus<lb/> der Zuschauerstellung heraus kommt, denn Amüsement, Genuß ist<lb/> hier der Hauptzweck. Man betrachtet sich das Schauspiel und<lb/> fühlt sich dabei recht wohl in seiner eigenen Haut. Der einzige<lb/> Ehrenpreis der pikanten Bewegung ist wesentlich: Aufsehen erregen.</p><lb/> <p xml:id="ID_232" next="#ID_233"> In der literarischen Form trifft das Pikante und Interessante<lb/> fast ganz zusammen. Man ist bei jedem einzelnen Satze am Ziele,<lb/> weil man keines hat, abbrechen kann, wo man will; es geht<lb/> nicht, je nach dem Erforderniß, in Schritt, Trab oder Galopp;</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
nem in sich geschlossenen Ganzen zu verarbeiten, das eben ist ja
gerade pikant.
Hat der Darsteller des Pikanten eine Tendenz, so werden die
von ihm Verfolgten ihn gewiß am meisten lesen; sie fühlen es dun¬
kel, daß er sie nur amüsiren und ihnen nichts weiter anhaben kann,
weil der sittliche Boden fehlt, von dem aus sie allein getroffen
werden können, weil ihnen nie der heilige Zorn entgegenflammt,
der ihre vornehme Hohlheit in sich zusammen brechen macht.
Wenn der Pikante alle die seltsamen und oft brillanten Wun¬
derlichkeiten seiner Subjectivität ausgebreitet hat, so ist er im Stande
und wirft zuletzt noch seine Leser, seine Gebilde und sich selber oben
drein über den Haufen. Er hat keine Liebe, weder zu.sich, noch
zu seinem Werke, die ihn aufrecht erhält, das wäre ja altväterisch
und langweilig.
Nun aber tritt sein Halbbruder oder sein eigner Doppelgän¬
ger auf, der mit verschränkten Armen, blassen Antlitzes dort an
eine Säule gelehnt steht, es ist das Interessante.
Das Interessante ist der gesellschaftsfähige, modisch aufgestützte
Katzenjammer. Wenn ein Gegenstand, ein Ereigniß, ein Mensch,
eine vorübergehende Erregung zuwege bringt, ohne dadurch das
thatenlose Gleichgewicht zu stören, ohne eine tiefere Betheiligung zu er¬
regen, sondern nur dielahme Maschinerie eine Weile in Gang bringt,
so nennt man das interessant. Ein leidender Zug ist erforderlich,
er darf aber nicht so stark sein, um zum wirklichen Mitleiden zu er¬
regen. Ausgebrannte Wüstlingsnaturcn vorführen, mit dem
scheinbar nachlässig drapirten Schleier eines Geheimnisses, das
„enchantirt;" erstorbene Empfindungsleichen noch einmal galvanisi-
ren, daß sie krampfhaft aufzucken, wie reizend und interessant ist
basi Zu dem Interessanten gehört nothwendig, daß man nie aus
der Zuschauerstellung heraus kommt, denn Amüsement, Genuß ist
hier der Hauptzweck. Man betrachtet sich das Schauspiel und
fühlt sich dabei recht wohl in seiner eigenen Haut. Der einzige
Ehrenpreis der pikanten Bewegung ist wesentlich: Aufsehen erregen.
In der literarischen Form trifft das Pikante und Interessante
fast ganz zusammen. Man ist bei jedem einzelnen Satze am Ziele,
weil man keines hat, abbrechen kann, wo man will; es geht
nicht, je nach dem Erforderniß, in Schritt, Trab oder Galopp;
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