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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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IN.
Der Schauspieler und die Gesellschaft.

Es gibt vielleicht kaum noch einen Stand, der eine so wesent¬
liche, äußere Umwandlung erfahren hat, der in ein so ganz anderes
Verhältniß zur Gesellschaft überhaupt hineingekommen ist, von dem
endlich die socialen Begriffe sich so ganzlich umgestaltet haben als
der Stand des Schauspielers. Den Schauspieler von heute und den
Schauspieler von ehedem, welche himmelweit verschiedene Charakter"!
Will man diese Charaktere mit einander vergleichen oder gegen einan¬
der abwägen, so wird man leicht geneigt, sich nach diesem
Verhältniß einen Maßstab von der allgemeinen Entwicklung,
Vervollkommnung und Veredlung der menschlichen Gesellschaft zu
bilden. Allein diese Schlußfolgerung hat etwas schiefes und Un¬
wahres, denn leider ist die menschliche Gesellschaft in sittlicher Be¬
ziehung nicht in dem Maße fortgeschritten wie der Schauspieler
in seiner Individualität, in seiner bürgerlichen Stellung und Achtung.
Vielleicht ist es gut, den heutigen, stolzen, aristokratisÄ)en Schauspieler
aus jenen wilden Urwald zurückzuweisen, aus dem er hervorging, ihn
daran zu erinnern, wie er einst beurtheilt und angesehen wurde, um
ihn in seinem Eldorado der Gegenwart, in diesen Gefilden, welche
für ihn von der Milch des Goldes und dem Honig des Lobes durch¬
strömt werden, möglichen Falls zur Selbsterkenntniß zu führen.

Es liegt eine eigenthümliche, groteske Romantik in den alten
Theater- und Schauspielerzustanden vor siebenzig, achtzig Jahren,
gegen welche die moderne Coulissenromantik kaum noch genannt werden darf.
Der Schauspieler vor siebenzig Jahren nomadisirte zum großen Theil
wie der Zigeuner; in der Scheune, hinter welcher dieser cohortenweise
lag und Kessel flickte oder aus der Hand wahrsagte, Sommersprossen
vertrieb und Hirsenbrei kochte, tractirte jener die "abenteuerliche Histo-
ria vom Doctor Faustus" oder die "wunderbare Comödia vom Sün¬
denfall und der Vertreibung Adam's und Eva's aus dem Paradiese."
Und hatten Beide sich müde gearbeitet und heiser gesprochen, so gingen
sie in die Schenke oder zum Schnavvsverkäufer, doch nicht zu den
anderen Gästen in die Stube hinein, sondern sie blieben geächtet und
gefürchtet auf der Diele stehen, wo ihnen in blechernen Maßen, die
durch eine Kette an den Tisch befestigt waren, der gewünschte Spiri¬
tus zur Erfrischung und Stärkung der ausgedörrten Lebensgeister ver¬
abreicht wurde. Vielleicht stand dann auch noch in Reihe und Glied
in demselben Range ein "nackter Soldat" neben ihnen. ster eS


Grenzbot-n, 184", II 4V
IN.
Der Schauspieler und die Gesellschaft.

Es gibt vielleicht kaum noch einen Stand, der eine so wesent¬
liche, äußere Umwandlung erfahren hat, der in ein so ganz anderes
Verhältniß zur Gesellschaft überhaupt hineingekommen ist, von dem
endlich die socialen Begriffe sich so ganzlich umgestaltet haben als
der Stand des Schauspielers. Den Schauspieler von heute und den
Schauspieler von ehedem, welche himmelweit verschiedene Charakter«!
Will man diese Charaktere mit einander vergleichen oder gegen einan¬
der abwägen, so wird man leicht geneigt, sich nach diesem
Verhältniß einen Maßstab von der allgemeinen Entwicklung,
Vervollkommnung und Veredlung der menschlichen Gesellschaft zu
bilden. Allein diese Schlußfolgerung hat etwas schiefes und Un¬
wahres, denn leider ist die menschliche Gesellschaft in sittlicher Be¬
ziehung nicht in dem Maße fortgeschritten wie der Schauspieler
in seiner Individualität, in seiner bürgerlichen Stellung und Achtung.
Vielleicht ist es gut, den heutigen, stolzen, aristokratisÄ)en Schauspieler
aus jenen wilden Urwald zurückzuweisen, aus dem er hervorging, ihn
daran zu erinnern, wie er einst beurtheilt und angesehen wurde, um
ihn in seinem Eldorado der Gegenwart, in diesen Gefilden, welche
für ihn von der Milch des Goldes und dem Honig des Lobes durch¬
strömt werden, möglichen Falls zur Selbsterkenntniß zu führen.

Es liegt eine eigenthümliche, groteske Romantik in den alten
Theater- und Schauspielerzustanden vor siebenzig, achtzig Jahren,
gegen welche die moderne Coulissenromantik kaum noch genannt werden darf.
Der Schauspieler vor siebenzig Jahren nomadisirte zum großen Theil
wie der Zigeuner; in der Scheune, hinter welcher dieser cohortenweise
lag und Kessel flickte oder aus der Hand wahrsagte, Sommersprossen
vertrieb und Hirsenbrei kochte, tractirte jener die „abenteuerliche Histo-
ria vom Doctor Faustus" oder die „wunderbare Comödia vom Sün¬
denfall und der Vertreibung Adam's und Eva's aus dem Paradiese."
Und hatten Beide sich müde gearbeitet und heiser gesprochen, so gingen
sie in die Schenke oder zum Schnavvsverkäufer, doch nicht zu den
anderen Gästen in die Stube hinein, sondern sie blieben geächtet und
gefürchtet auf der Diele stehen, wo ihnen in blechernen Maßen, die
durch eine Kette an den Tisch befestigt waren, der gewünschte Spiri¬
tus zur Erfrischung und Stärkung der ausgedörrten Lebensgeister ver¬
abreicht wurde. Vielleicht stand dann auch noch in Reihe und Glied
in demselben Range ein „nackter Soldat" neben ihnen. ster eS


Grenzbot-n, 184«, II 4V
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/85>, abgerufen am 24.11.2024.