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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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als ehrwürdig erkennen, sich daran erfreuen, es schonen und Pflegen.
Von ästhetischen Ueberschwänglichkeiten, wohin die einseitige Pflege
und Verzärtelung der Kunst, wenn sie nur allein Schooßkind der hö¬
heren Stände sein will, mehr oder weniger führt, soll er sich an das
Leben des Volkes wenden, welches darzustellen in diesen Geschichten
versucht wird. Als Hauptrepräsentant dieses Genres sind jedenfalls
die "Schwarzwälder Dorfgeschichten" von Berthold Auerbach zu be¬
trachten. ES treten an ihnen alle Vorzüge und alle Schwächen die¬
ser Richtung hervor. Ihre Bedeutung liegt in ihrer Reaction gegen
eine verflachte belletristische Literatur, in ihrem Zurückgehen auf den
Volksnerv, in ihrer Liebe und Wärme, zum Theil auch in ihrer Poesie,
womit sie sich in der Schilderung des Volkslebens versuchen. Aber
ihre Schwächen? Diese Schwächen liegen darin, daß sie um die Un--
mittelbarkeit des Volkslebens buhlen und sie nicht als eine unterge¬
ordnete Stufe für die Entwicklung betrachten, daß sie selbst unmittel¬
bar scheinen möchten, und doch der Reflexion verfallen sind, daß sie
einen glänzenden Lack übe: die Volkszustände streichen und mit der Sen¬
timentalität über die Wahrheit täuschen wollen. Daß sie eine Naive¬
tät erkünsteln und daß hinter dieser Naivetät die Coquetterie mit ei¬
nem Volksthume, welches nicht über den engen Kreis der Unmittel¬
barkeit emporgehoben werden soll, hervorblickt. Sie werden dadurch
berechnet. Ihre theatralische Wirkung, ihr Heller FarbenMnz, der
das ganze Gemälde füllt, kann sich bis zur Unwahrheit steigern. Sie
verlangen für das Volk keinen socialen, keinen sittlichen Gehalt. Sie
trachten dahin, daß das Volk in seiner Natürlichkeit stehen bleibe und
daß diese Natürlichkeit, der durch die Sentimentalität der Schilderung
ein verwaschenes Licht gegeben wird, ein Gegenstand allgemeiner An^
erkennung und Bewunderung werde. Bewundern mag man einen
Shakespeare'schen Faulconbridge, in dem sich die naive Unmittelbar¬
keit des englischen Volksnaturells einer verderbten Welt gegenüber
großartig geltend macht, aber welch' ein Interesse kann ein enger
schwarzwälder Dorfgeschichtenkreis einflößen, wenn der Verfasser über
dem Volksthümlichen das Freimenschliche, über dem Sentimentalen das
Wahre auszuschließen sucht? Welch' einen Reiz kann die Volksthüm-
lichkeit da haben, wo der Verfasser sie selber in ihrer ganzen unter¬
geordneten Bedeutung zum höchsten Zwecke macht und nicht einmal
die Nothwendigkeit des Hinauögehens über dieselbe, die Entzweiung
mit derselben anerkennt? In diesem Zurückstreben auf die rohe Na¬
türlichkeit des Volkes und in dem Stehenbleiben bet derselben trifft Auer--


als ehrwürdig erkennen, sich daran erfreuen, es schonen und Pflegen.
Von ästhetischen Ueberschwänglichkeiten, wohin die einseitige Pflege
und Verzärtelung der Kunst, wenn sie nur allein Schooßkind der hö¬
heren Stände sein will, mehr oder weniger führt, soll er sich an das
Leben des Volkes wenden, welches darzustellen in diesen Geschichten
versucht wird. Als Hauptrepräsentant dieses Genres sind jedenfalls
die „Schwarzwälder Dorfgeschichten" von Berthold Auerbach zu be¬
trachten. ES treten an ihnen alle Vorzüge und alle Schwächen die¬
ser Richtung hervor. Ihre Bedeutung liegt in ihrer Reaction gegen
eine verflachte belletristische Literatur, in ihrem Zurückgehen auf den
Volksnerv, in ihrer Liebe und Wärme, zum Theil auch in ihrer Poesie,
womit sie sich in der Schilderung des Volkslebens versuchen. Aber
ihre Schwächen? Diese Schwächen liegen darin, daß sie um die Un--
mittelbarkeit des Volkslebens buhlen und sie nicht als eine unterge¬
ordnete Stufe für die Entwicklung betrachten, daß sie selbst unmittel¬
bar scheinen möchten, und doch der Reflexion verfallen sind, daß sie
einen glänzenden Lack übe: die Volkszustände streichen und mit der Sen¬
timentalität über die Wahrheit täuschen wollen. Daß sie eine Naive¬
tät erkünsteln und daß hinter dieser Naivetät die Coquetterie mit ei¬
nem Volksthume, welches nicht über den engen Kreis der Unmittel¬
barkeit emporgehoben werden soll, hervorblickt. Sie werden dadurch
berechnet. Ihre theatralische Wirkung, ihr Heller FarbenMnz, der
das ganze Gemälde füllt, kann sich bis zur Unwahrheit steigern. Sie
verlangen für das Volk keinen socialen, keinen sittlichen Gehalt. Sie
trachten dahin, daß das Volk in seiner Natürlichkeit stehen bleibe und
daß diese Natürlichkeit, der durch die Sentimentalität der Schilderung
ein verwaschenes Licht gegeben wird, ein Gegenstand allgemeiner An^
erkennung und Bewunderung werde. Bewundern mag man einen
Shakespeare'schen Faulconbridge, in dem sich die naive Unmittelbar¬
keit des englischen Volksnaturells einer verderbten Welt gegenüber
großartig geltend macht, aber welch' ein Interesse kann ein enger
schwarzwälder Dorfgeschichtenkreis einflößen, wenn der Verfasser über
dem Volksthümlichen das Freimenschliche, über dem Sentimentalen das
Wahre auszuschließen sucht? Welch' einen Reiz kann die Volksthüm-
lichkeit da haben, wo der Verfasser sie selber in ihrer ganzen unter¬
geordneten Bedeutung zum höchsten Zwecke macht und nicht einmal
die Nothwendigkeit des Hinauögehens über dieselbe, die Entzweiung
mit derselben anerkennt? In diesem Zurückstreben auf die rohe Na¬
türlichkeit des Volkes und in dem Stehenbleiben bet derselben trifft Auer--


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/166>, abgerufen am 24.07.2024.