Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.Rechnung auf dem Tisch. Auch das ist ein Maßstab für den Flug Rechnung auf dem Tisch. Auch das ist ein Maßstab für den Flug <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182406"/> <p xml:id="ID_1415" prev="#ID_1414" next="#ID_1416"> Rechnung auf dem Tisch. Auch das ist ein Maßstab für den Flug<lb/> der Londoner Zeit. Der Abend brach herein und ich hatte noch<lb/> eine kleine Reise vor mir, beschloß aber bis Leicestersauare, wo<lb/> mein Reisebündel lag, mich allein durchzufragen und von dort<lb/> mit dem Omnibus zurückzukommen. Ich freute mich auf die Wan¬<lb/> derung wie auf ein Abenteuer. Mein Spaziergang führte mich<lb/> unter andern, durch Holborn, ein Viertel das nach seinem räuche¬<lb/> rigen Teint zu urtheilen, echt altlondonisch ist. Ein eigenthümli¬<lb/> cheres Schauspiel hatte ich lange nicht, als die magische Abend¬<lb/> beleuchtung der Gassen von Holborn. Während unten Alles im<lb/> Schatten lag, glühten die Essen und die Dachenden oben, wie ver¬<lb/> goldetes Eisen, und so oft ich um eine Ecke bog, begegnete mir<lb/> immer wieder der purpurne Strahlenkegel und goß seine Glorie<lb/> über die hundert zackigen Spitzen des Stadttheils; auch die Cock-<lb/> neys vor den Gewölben sitzend, genossen die ungewöhnlich schöne<lb/> Feierstunde. Es war eine so kleinstädtisch patriarchalische Ruhe<lb/> ringsum, daß ich gemächlich hinschlendene und die Gesichter stu¬<lb/> dierte. In den meisten Physiognomien unterscheidet man noch deut¬<lb/> lich den sächsischen und den normännischen Typus; dieser ist gewöhn¬<lb/> lich mit einem schlanken hohen Wuchs verbunden. Die normän¬<lb/> nischen Engländer mit den scharfen Zügen und den dunklen Haa¬<lb/> ren könnte man oft für Spanier oder Franzosen halten; nur schrei¬<lb/> ten sie gemessener einher und halten sich stolzer als die Kinder von<lb/> er Seine. Die rein sächsischen Physiognomien kommen einem gar<lb/> bekannt vor; man denkt dieselben Leute bereits hundertmal an der<lb/> Elbe oder Weser gesehen zu haben, denn nicht blos die Gesichts-<lb/> ildung, sondern auch der Ausdruck, die gedrungene Statur, die<lb/> rt und Weise im Gehen und Wenden, das alles ist norddeutsch.<lb/> nd doch ist ein unsagbares Etwas in den englischen Gesichtern,<lb/> as man anderswo nicht findet: ein Ausdruck von Entschlossenheit<lb/> nd tiefer Ueberlegung, welcher Respect einflößt. Es ist den Leu¬<lb/> en auf die Stirn geschrieben, daß sie ihre Freiheit verdienen.<lb/> an wird überrascht von der Unzahl intelligenter Gesichter, die<lb/> us jedem Menschenhaufen hervorleuchten; ich habe hier Kellner<lb/> nd Ladendiener gesehen, die ein Physiognom sür verkleidete Par¬<lb/> amentsredner halten müßte, und besonders frappirte mich, als ich<lb/> eut zum ersten Mal auffuhr, der Omnibusmann hinten am</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0596]
Rechnung auf dem Tisch. Auch das ist ein Maßstab für den Flug
der Londoner Zeit. Der Abend brach herein und ich hatte noch
eine kleine Reise vor mir, beschloß aber bis Leicestersauare, wo
mein Reisebündel lag, mich allein durchzufragen und von dort
mit dem Omnibus zurückzukommen. Ich freute mich auf die Wan¬
derung wie auf ein Abenteuer. Mein Spaziergang führte mich
unter andern, durch Holborn, ein Viertel das nach seinem räuche¬
rigen Teint zu urtheilen, echt altlondonisch ist. Ein eigenthümli¬
cheres Schauspiel hatte ich lange nicht, als die magische Abend¬
beleuchtung der Gassen von Holborn. Während unten Alles im
Schatten lag, glühten die Essen und die Dachenden oben, wie ver¬
goldetes Eisen, und so oft ich um eine Ecke bog, begegnete mir
immer wieder der purpurne Strahlenkegel und goß seine Glorie
über die hundert zackigen Spitzen des Stadttheils; auch die Cock-
neys vor den Gewölben sitzend, genossen die ungewöhnlich schöne
Feierstunde. Es war eine so kleinstädtisch patriarchalische Ruhe
ringsum, daß ich gemächlich hinschlendene und die Gesichter stu¬
dierte. In den meisten Physiognomien unterscheidet man noch deut¬
lich den sächsischen und den normännischen Typus; dieser ist gewöhn¬
lich mit einem schlanken hohen Wuchs verbunden. Die normän¬
nischen Engländer mit den scharfen Zügen und den dunklen Haa¬
ren könnte man oft für Spanier oder Franzosen halten; nur schrei¬
ten sie gemessener einher und halten sich stolzer als die Kinder von
er Seine. Die rein sächsischen Physiognomien kommen einem gar
bekannt vor; man denkt dieselben Leute bereits hundertmal an der
Elbe oder Weser gesehen zu haben, denn nicht blos die Gesichts-
ildung, sondern auch der Ausdruck, die gedrungene Statur, die
rt und Weise im Gehen und Wenden, das alles ist norddeutsch.
nd doch ist ein unsagbares Etwas in den englischen Gesichtern,
as man anderswo nicht findet: ein Ausdruck von Entschlossenheit
nd tiefer Ueberlegung, welcher Respect einflößt. Es ist den Leu¬
en auf die Stirn geschrieben, daß sie ihre Freiheit verdienen.
an wird überrascht von der Unzahl intelligenter Gesichter, die
us jedem Menschenhaufen hervorleuchten; ich habe hier Kellner
nd Ladendiener gesehen, die ein Physiognom sür verkleidete Par¬
amentsredner halten müßte, und besonders frappirte mich, als ich
eut zum ersten Mal auffuhr, der Omnibusmann hinten am
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