Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sende zu Mittag, die geradenicht zu den Proletariern gehören. Es ist ein
Mahl, wie für einen Athleten, der sich aus dem heißen Kampfe
des Tages in einen stillen Winkel zurückzieht, und sich eilends
Kraft holt, um wieder eine Reihe von Stunden mit Händen und
Füßen zu arbeiten und zu rudern. Der brausende Wind rüttelte
an den Fensterscheiben des Zimmerchens mit den kahlen Wänden,
wo ich, wie ein Gefangener, eine Stunde in Gedanken saß. Es
wurde mir doch etwas beklommen zu Muthe, wenn ich an Lon¬
don dachte; so geht es dem Neuling im Seebade, wenn ihm die
Fluthen, athemversetzend, höher und höher den Busen hinaufsteigen.
Endlich kam S. zurück. Wir durchstreiften dann ein ganzes Kirch¬
spiel in der Nähe von New Noad, gegenüber vom Eagle. Wieder
eine neue Welt! Einförmige Straßen, ein Haus wie das andere,
alle niedrig und dürftig, keines höher als einen Stock; in den dun¬
kelbraunen unangestrichenen Mauern stecken noch die blanken klei¬
nen Kieselsteine. Etwas malerische Unordnung, sogar etwas ro¬
mantischer mysterienhafter Schmutz wäre meinem Auge hier eine
Labung gewesen. Aber die Trottoirs und die stets geschlossenen
Hausthüren waren blank wie überall. Ich konnte die Straßen
nicht zählen, ich schmachtete nach einer Abwechslung, und doch
kamen wir aus dem flachen Viertel nicht heraus. Und so niedrig
die klosterzellenartigen Häuserreihen sind, doch nirgends eine Aus¬
sicht darüber weg; höchstens hie und da der kleine giebelartige
Thurm einer Kirche oder Dissenterkapelle. Ich glaubte, in einem
riesigen Dorfe zu sein, in einem zu Stein gewordenen Feldlager auf
irgend einer ungarischen oder mälkischen Haide. Das ist Hoiton.
An einem Ende dieses Quartiers beschloß ich, wegen der Nachbar¬
schaft der New Road, mein Zelt aufzuschlagen.

Die ehrbare Matrone in Butteölandstrcet, bei der ich im er¬
sten Stock einziehen wollte, war eine hohe Gestalt mit blauen Au¬
gen und sah, trotz des verschossenen Seidenhutes, den sie immer
trug, ziemlich wie eine gute norddeutsche Bäuerin aus. Sie ver¬
langte eine res,-reue'>, eine Art Empfehlung von frühern Wirths¬
leuten oder Bekannten. -- Ich komme eben vom Continent und
kann Ihnen keine andere Reference geben, sagte ich, als daß ich
vorausbezahle. Das genügte. Man miethet hier kleine Privatquar¬
tiere nie anders als auf eine Woche; nach acht Tagen liegt die


sende zu Mittag, die geradenicht zu den Proletariern gehören. Es ist ein
Mahl, wie für einen Athleten, der sich aus dem heißen Kampfe
des Tages in einen stillen Winkel zurückzieht, und sich eilends
Kraft holt, um wieder eine Reihe von Stunden mit Händen und
Füßen zu arbeiten und zu rudern. Der brausende Wind rüttelte
an den Fensterscheiben des Zimmerchens mit den kahlen Wänden,
wo ich, wie ein Gefangener, eine Stunde in Gedanken saß. Es
wurde mir doch etwas beklommen zu Muthe, wenn ich an Lon¬
don dachte; so geht es dem Neuling im Seebade, wenn ihm die
Fluthen, athemversetzend, höher und höher den Busen hinaufsteigen.
Endlich kam S. zurück. Wir durchstreiften dann ein ganzes Kirch¬
spiel in der Nähe von New Noad, gegenüber vom Eagle. Wieder
eine neue Welt! Einförmige Straßen, ein Haus wie das andere,
alle niedrig und dürftig, keines höher als einen Stock; in den dun¬
kelbraunen unangestrichenen Mauern stecken noch die blanken klei¬
nen Kieselsteine. Etwas malerische Unordnung, sogar etwas ro¬
mantischer mysterienhafter Schmutz wäre meinem Auge hier eine
Labung gewesen. Aber die Trottoirs und die stets geschlossenen
Hausthüren waren blank wie überall. Ich konnte die Straßen
nicht zählen, ich schmachtete nach einer Abwechslung, und doch
kamen wir aus dem flachen Viertel nicht heraus. Und so niedrig
die klosterzellenartigen Häuserreihen sind, doch nirgends eine Aus¬
sicht darüber weg; höchstens hie und da der kleine giebelartige
Thurm einer Kirche oder Dissenterkapelle. Ich glaubte, in einem
riesigen Dorfe zu sein, in einem zu Stein gewordenen Feldlager auf
irgend einer ungarischen oder mälkischen Haide. Das ist Hoiton.
An einem Ende dieses Quartiers beschloß ich, wegen der Nachbar¬
schaft der New Road, mein Zelt aufzuschlagen.

Die ehrbare Matrone in Butteölandstrcet, bei der ich im er¬
sten Stock einziehen wollte, war eine hohe Gestalt mit blauen Au¬
gen und sah, trotz des verschossenen Seidenhutes, den sie immer
trug, ziemlich wie eine gute norddeutsche Bäuerin aus. Sie ver¬
langte eine res,-reue'>, eine Art Empfehlung von frühern Wirths¬
leuten oder Bekannten. — Ich komme eben vom Continent und
kann Ihnen keine andere Reference geben, sagte ich, als daß ich
vorausbezahle. Das genügte. Man miethet hier kleine Privatquar¬
tiere nie anders als auf eine Woche; nach acht Tagen liegt die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0595" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182405"/>
            <p xml:id="ID_1413" prev="#ID_1412"> sende zu Mittag, die geradenicht zu den Proletariern gehören. Es ist ein<lb/>
Mahl, wie für einen Athleten, der sich aus dem heißen Kampfe<lb/>
des Tages in einen stillen Winkel zurückzieht, und sich eilends<lb/>
Kraft holt, um wieder eine Reihe von Stunden mit Händen und<lb/>
Füßen zu arbeiten und zu rudern. Der brausende Wind rüttelte<lb/>
an den Fensterscheiben des Zimmerchens mit den kahlen Wänden,<lb/>
wo ich, wie ein Gefangener, eine Stunde in Gedanken saß. Es<lb/>
wurde mir doch etwas beklommen zu Muthe, wenn ich an Lon¬<lb/>
don dachte; so geht es dem Neuling im Seebade, wenn ihm die<lb/>
Fluthen, athemversetzend, höher und höher den Busen hinaufsteigen.<lb/>
Endlich kam S. zurück. Wir durchstreiften dann ein ganzes Kirch¬<lb/>
spiel in der Nähe von New Noad, gegenüber vom Eagle. Wieder<lb/>
eine neue Welt! Einförmige Straßen, ein Haus wie das andere,<lb/>
alle niedrig und dürftig, keines höher als einen Stock; in den dun¬<lb/>
kelbraunen unangestrichenen Mauern stecken noch die blanken klei¬<lb/>
nen Kieselsteine. Etwas malerische Unordnung, sogar etwas ro¬<lb/>
mantischer mysterienhafter Schmutz wäre meinem Auge hier eine<lb/>
Labung gewesen. Aber die Trottoirs und die stets geschlossenen<lb/>
Hausthüren waren blank wie überall. Ich konnte die Straßen<lb/>
nicht zählen, ich schmachtete nach einer Abwechslung, und doch<lb/>
kamen wir aus dem flachen Viertel nicht heraus. Und so niedrig<lb/>
die klosterzellenartigen Häuserreihen sind, doch nirgends eine Aus¬<lb/>
sicht darüber weg; höchstens hie und da der kleine giebelartige<lb/>
Thurm einer Kirche oder Dissenterkapelle. Ich glaubte, in einem<lb/>
riesigen Dorfe zu sein, in einem zu Stein gewordenen Feldlager auf<lb/>
irgend einer ungarischen oder mälkischen Haide. Das ist Hoiton.<lb/>
An einem Ende dieses Quartiers beschloß ich, wegen der Nachbar¬<lb/>
schaft der New Road, mein Zelt aufzuschlagen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1414" next="#ID_1415"> Die ehrbare Matrone in Butteölandstrcet, bei der ich im er¬<lb/>
sten Stock einziehen wollte, war eine hohe Gestalt mit blauen Au¬<lb/>
gen und sah, trotz des verschossenen Seidenhutes, den sie immer<lb/>
trug, ziemlich wie eine gute norddeutsche Bäuerin aus. Sie ver¬<lb/>
langte eine res,-reue'&gt;, eine Art Empfehlung von frühern Wirths¬<lb/>
leuten oder Bekannten. &#x2014; Ich komme eben vom Continent und<lb/>
kann Ihnen keine andere Reference geben, sagte ich, als daß ich<lb/>
vorausbezahle. Das genügte. Man miethet hier kleine Privatquar¬<lb/>
tiere nie anders als auf eine Woche; nach acht Tagen liegt die</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0595] sende zu Mittag, die geradenicht zu den Proletariern gehören. Es ist ein Mahl, wie für einen Athleten, der sich aus dem heißen Kampfe des Tages in einen stillen Winkel zurückzieht, und sich eilends Kraft holt, um wieder eine Reihe von Stunden mit Händen und Füßen zu arbeiten und zu rudern. Der brausende Wind rüttelte an den Fensterscheiben des Zimmerchens mit den kahlen Wänden, wo ich, wie ein Gefangener, eine Stunde in Gedanken saß. Es wurde mir doch etwas beklommen zu Muthe, wenn ich an Lon¬ don dachte; so geht es dem Neuling im Seebade, wenn ihm die Fluthen, athemversetzend, höher und höher den Busen hinaufsteigen. Endlich kam S. zurück. Wir durchstreiften dann ein ganzes Kirch¬ spiel in der Nähe von New Noad, gegenüber vom Eagle. Wieder eine neue Welt! Einförmige Straßen, ein Haus wie das andere, alle niedrig und dürftig, keines höher als einen Stock; in den dun¬ kelbraunen unangestrichenen Mauern stecken noch die blanken klei¬ nen Kieselsteine. Etwas malerische Unordnung, sogar etwas ro¬ mantischer mysterienhafter Schmutz wäre meinem Auge hier eine Labung gewesen. Aber die Trottoirs und die stets geschlossenen Hausthüren waren blank wie überall. Ich konnte die Straßen nicht zählen, ich schmachtete nach einer Abwechslung, und doch kamen wir aus dem flachen Viertel nicht heraus. Und so niedrig die klosterzellenartigen Häuserreihen sind, doch nirgends eine Aus¬ sicht darüber weg; höchstens hie und da der kleine giebelartige Thurm einer Kirche oder Dissenterkapelle. Ich glaubte, in einem riesigen Dorfe zu sein, in einem zu Stein gewordenen Feldlager auf irgend einer ungarischen oder mälkischen Haide. Das ist Hoiton. An einem Ende dieses Quartiers beschloß ich, wegen der Nachbar¬ schaft der New Road, mein Zelt aufzuschlagen. Die ehrbare Matrone in Butteölandstrcet, bei der ich im er¬ sten Stock einziehen wollte, war eine hohe Gestalt mit blauen Au¬ gen und sah, trotz des verschossenen Seidenhutes, den sie immer trug, ziemlich wie eine gute norddeutsche Bäuerin aus. Sie ver¬ langte eine res,-reue'>, eine Art Empfehlung von frühern Wirths¬ leuten oder Bekannten. — Ich komme eben vom Continent und kann Ihnen keine andere Reference geben, sagte ich, als daß ich vorausbezahle. Das genügte. Man miethet hier kleine Privatquar¬ tiere nie anders als auf eine Woche; nach acht Tagen liegt die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/595
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/595>, abgerufen am 02.09.2024.