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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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zu jedem Hause bildet auf diese Art ein schmales Gärtchen mit
jungen und alten Bäumen. Hollunderzweige und Lindenkronen
oder Vogelbeergebüsche mit purpurrothen Früchten werfen ihren
Schatten oft über das Gitter weg auf den Pfad des Fußgängers.
Das ist gewiß idyllisch in einer so ungeheuern Stadt. Ueberhaupt
ist ganz London vom saftigsten Grün und von den üppigsten Blu¬
men und Pflanzenkränzen durchflochten. Wie das aber hier absticht
gegen das Treiben in Mitten des Fahrwegs, wo die Gigs und
Cabs um die Wette rennen, wo die Omnibusse mit bevölkerten
Dächern, die Waggons mit alten Möbeln und ausziehenden Fa¬
milien beladen, vom Weiten, wie betbürmte Elephanten, herkeu¬
chen! Plötzlich rasselt wieder eine neue kolossale Locomotive oder
ein Dampfmaschinenkessel vorbei, gezogen von sechs bis acht riesi¬
gen Braunpferden; dahinter elegante Reiter und Reiterinnen; Män¬
ner mit einem Schilderhaus um den Leib, das mit Annoncen be¬
klebt ist, während der Kopf mit dem stets offenen, schreienden Maul
und den großen rothen Lippen wie ein Puppenkopf aus dem höl¬
zernen Mackintosh hervorragt; dann Gemüsekarren von Eseln ge¬
zogen,, Kohlenwagen und niedere Fuhrwerke mit Sandsteinen oder
Marmorblöcken -- eine wahre Völkerwanderung. Man glaubt,
London ziehe aus, um eine neue Stadt zu gründen. Bald nimmt
New Road andere Benennungen an, aber es ist immer dieselbe
Straße. Jetzt wird es still, wie auf dem Lande, nur der ewig leise
Donner in den Lüften, in regelmäßigen Intervallen absetzend und
anhebend, wie der Athem des Meeres, mahnt daran, daß man
in London ist. Die neigende Sonne bescheint die Höhen am Ho¬
rizont; es scheinen mäßige bewaldete Hügel in bläulichem Fern¬
duft, es sind aber Hügel aus Häusern, hinter denen wieder Häu¬
ser und Paläste sind. So groß ist diese Stadt.

Einige Häuser weit vom Eagle ließ mich S. allein in einem
Speisehaus, wo er mich später abholen wollte. Der Wirth zeigte
mir im ersten Stock in ein leeres Zimmer und trug mir, auf mein
Verlangen, ein i>Julo ok heel auf mit einer karfunkelrothen Niesen-
kartoffel und einem kleinen Stückchen Weißbrot. Es war homerisches
Rindfleisch und kaum zu bezwingen von einem sentimentalen deutschen
Magen, der an ein Feuilleton von Kleinigkeiten, aber nicht an eine so luxu¬
riöse Einfachheit gewöhnt ist. So speisen hier Tausende und aberTau-


zu jedem Hause bildet auf diese Art ein schmales Gärtchen mit
jungen und alten Bäumen. Hollunderzweige und Lindenkronen
oder Vogelbeergebüsche mit purpurrothen Früchten werfen ihren
Schatten oft über das Gitter weg auf den Pfad des Fußgängers.
Das ist gewiß idyllisch in einer so ungeheuern Stadt. Ueberhaupt
ist ganz London vom saftigsten Grün und von den üppigsten Blu¬
men und Pflanzenkränzen durchflochten. Wie das aber hier absticht
gegen das Treiben in Mitten des Fahrwegs, wo die Gigs und
Cabs um die Wette rennen, wo die Omnibusse mit bevölkerten
Dächern, die Waggons mit alten Möbeln und ausziehenden Fa¬
milien beladen, vom Weiten, wie betbürmte Elephanten, herkeu¬
chen! Plötzlich rasselt wieder eine neue kolossale Locomotive oder
ein Dampfmaschinenkessel vorbei, gezogen von sechs bis acht riesi¬
gen Braunpferden; dahinter elegante Reiter und Reiterinnen; Män¬
ner mit einem Schilderhaus um den Leib, das mit Annoncen be¬
klebt ist, während der Kopf mit dem stets offenen, schreienden Maul
und den großen rothen Lippen wie ein Puppenkopf aus dem höl¬
zernen Mackintosh hervorragt; dann Gemüsekarren von Eseln ge¬
zogen,, Kohlenwagen und niedere Fuhrwerke mit Sandsteinen oder
Marmorblöcken — eine wahre Völkerwanderung. Man glaubt,
London ziehe aus, um eine neue Stadt zu gründen. Bald nimmt
New Road andere Benennungen an, aber es ist immer dieselbe
Straße. Jetzt wird es still, wie auf dem Lande, nur der ewig leise
Donner in den Lüften, in regelmäßigen Intervallen absetzend und
anhebend, wie der Athem des Meeres, mahnt daran, daß man
in London ist. Die neigende Sonne bescheint die Höhen am Ho¬
rizont; es scheinen mäßige bewaldete Hügel in bläulichem Fern¬
duft, es sind aber Hügel aus Häusern, hinter denen wieder Häu¬
ser und Paläste sind. So groß ist diese Stadt.

Einige Häuser weit vom Eagle ließ mich S. allein in einem
Speisehaus, wo er mich später abholen wollte. Der Wirth zeigte
mir im ersten Stock in ein leeres Zimmer und trug mir, auf mein
Verlangen, ein i>Julo ok heel auf mit einer karfunkelrothen Niesen-
kartoffel und einem kleinen Stückchen Weißbrot. Es war homerisches
Rindfleisch und kaum zu bezwingen von einem sentimentalen deutschen
Magen, der an ein Feuilleton von Kleinigkeiten, aber nicht an eine so luxu¬
riöse Einfachheit gewöhnt ist. So speisen hier Tausende und aberTau-


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[0594] zu jedem Hause bildet auf diese Art ein schmales Gärtchen mit jungen und alten Bäumen. Hollunderzweige und Lindenkronen oder Vogelbeergebüsche mit purpurrothen Früchten werfen ihren Schatten oft über das Gitter weg auf den Pfad des Fußgängers. Das ist gewiß idyllisch in einer so ungeheuern Stadt. Ueberhaupt ist ganz London vom saftigsten Grün und von den üppigsten Blu¬ men und Pflanzenkränzen durchflochten. Wie das aber hier absticht gegen das Treiben in Mitten des Fahrwegs, wo die Gigs und Cabs um die Wette rennen, wo die Omnibusse mit bevölkerten Dächern, die Waggons mit alten Möbeln und ausziehenden Fa¬ milien beladen, vom Weiten, wie betbürmte Elephanten, herkeu¬ chen! Plötzlich rasselt wieder eine neue kolossale Locomotive oder ein Dampfmaschinenkessel vorbei, gezogen von sechs bis acht riesi¬ gen Braunpferden; dahinter elegante Reiter und Reiterinnen; Män¬ ner mit einem Schilderhaus um den Leib, das mit Annoncen be¬ klebt ist, während der Kopf mit dem stets offenen, schreienden Maul und den großen rothen Lippen wie ein Puppenkopf aus dem höl¬ zernen Mackintosh hervorragt; dann Gemüsekarren von Eseln ge¬ zogen,, Kohlenwagen und niedere Fuhrwerke mit Sandsteinen oder Marmorblöcken — eine wahre Völkerwanderung. Man glaubt, London ziehe aus, um eine neue Stadt zu gründen. Bald nimmt New Road andere Benennungen an, aber es ist immer dieselbe Straße. Jetzt wird es still, wie auf dem Lande, nur der ewig leise Donner in den Lüften, in regelmäßigen Intervallen absetzend und anhebend, wie der Athem des Meeres, mahnt daran, daß man in London ist. Die neigende Sonne bescheint die Höhen am Ho¬ rizont; es scheinen mäßige bewaldete Hügel in bläulichem Fern¬ duft, es sind aber Hügel aus Häusern, hinter denen wieder Häu¬ ser und Paläste sind. So groß ist diese Stadt. Einige Häuser weit vom Eagle ließ mich S. allein in einem Speisehaus, wo er mich später abholen wollte. Der Wirth zeigte mir im ersten Stock in ein leeres Zimmer und trug mir, auf mein Verlangen, ein i>Julo ok heel auf mit einer karfunkelrothen Niesen- kartoffel und einem kleinen Stückchen Weißbrot. Es war homerisches Rindfleisch und kaum zu bezwingen von einem sentimentalen deutschen Magen, der an ein Feuilleton von Kleinigkeiten, aber nicht an eine so luxu¬ riöse Einfachheit gewöhnt ist. So speisen hier Tausende und aberTau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/594>, abgerufen am 02.09.2024.