Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

behälter, daneben das europäische Organ und Londoner Tageblatt:
Times und der Punch, zwei Journale, die auch in der bescheiden¬
sten Kneipe selten fehlen. Der Punch mit seinem prächtigen Humor
erschien mir später in solchen Tavernen wie ein Komiker, der im
Grunde an Melancholie leidet, und bei dem der Hypochonder
durchbricht, sobald er allein ist. Man muß die puritanische Stille
und den sorgenvollen Ernst kennen, der hier zuweilen in solchen
Gegenden herrscht und selbst die Luft zu drücken scheint, um sich in
die Stimmung zu versetzen, die ich meine. Dann contrastirte mir
Punch so fürchterlich mit der ganzen Umgebung, daß ich nicht be¬
greifen konnte, woher ihm die lustigen Einfälle kamen. Seine Witze
schmeckten mir bitter Fnd seine ergötzlichen Holzschnittfiguren schie¬
nen mir grinsende Fratzen.

Diesmal war es anders. Die Wirthin brachte in der Zinn¬
kanne eine halbe Pint Achtpenny-Ale und entfernte sich. Wir schenk¬
ten die Spitzgläser voll und stießen an. Ale aber ist ein liebliches,
unversehens erhitzendes Getränk, welches gleichsam eine nachhaltige
Steinkohlengluth im Herzen anschürt und selbst die prüde englische
Schweigsamkeit bezwingen kann. Und wir waren zwei Deutsche!

Mein Vater, hub S. an, der ehrliche Pastor in -- rode, ist
ein alter Mann, der mit Ehren grau geworden ist, aber er läßt
sich nicht träumen, was man in wenigen Jahren alles durchmachen
kann. Er hat eine ungeheuere Vorliebe und Verehrung für Eng¬
land, welches er nächst Thüringen und Westphalen als den Sitz
aller Tugenden ansteht. So lange ich in Paris war, behandelte
er mich als Verlornen Sohn und wollte nichts von mir wissen,
kaum aber hatte er den ersten Brief aus London von mir bekom¬
men, so glaubte er mich auf dem Wege der Besserung und schickt
mir seitdem jährlich vierzig Thaler Courant. Es ist rührend! --
Ach, ich werde nächstens damit meinen Papagei auslösen, und mei¬
nen Pew in der New Town Church bezahlen. S. war ein poli¬
tischer Flüchtling. Ich hatte es mir gleich gedacht, aber ich sah
nur wieder von neuem, wie unschuldig in der Regel die sogenann¬
ten politischen Flüchtlinge aus Deutschland sind. Wegen welcher
Kindereien wird so ein deutscher Jüngling von seiner hohen Schule
hinausgejagt in die stürmische Schule der Heimathlosigkeit. Wie
Gymnasiasten, die mit schartigen Nappieren "Paukerei" spielen, ne-


behälter, daneben das europäische Organ und Londoner Tageblatt:
Times und der Punch, zwei Journale, die auch in der bescheiden¬
sten Kneipe selten fehlen. Der Punch mit seinem prächtigen Humor
erschien mir später in solchen Tavernen wie ein Komiker, der im
Grunde an Melancholie leidet, und bei dem der Hypochonder
durchbricht, sobald er allein ist. Man muß die puritanische Stille
und den sorgenvollen Ernst kennen, der hier zuweilen in solchen
Gegenden herrscht und selbst die Luft zu drücken scheint, um sich in
die Stimmung zu versetzen, die ich meine. Dann contrastirte mir
Punch so fürchterlich mit der ganzen Umgebung, daß ich nicht be¬
greifen konnte, woher ihm die lustigen Einfälle kamen. Seine Witze
schmeckten mir bitter Fnd seine ergötzlichen Holzschnittfiguren schie¬
nen mir grinsende Fratzen.

Diesmal war es anders. Die Wirthin brachte in der Zinn¬
kanne eine halbe Pint Achtpenny-Ale und entfernte sich. Wir schenk¬
ten die Spitzgläser voll und stießen an. Ale aber ist ein liebliches,
unversehens erhitzendes Getränk, welches gleichsam eine nachhaltige
Steinkohlengluth im Herzen anschürt und selbst die prüde englische
Schweigsamkeit bezwingen kann. Und wir waren zwei Deutsche!

Mein Vater, hub S. an, der ehrliche Pastor in — rode, ist
ein alter Mann, der mit Ehren grau geworden ist, aber er läßt
sich nicht träumen, was man in wenigen Jahren alles durchmachen
kann. Er hat eine ungeheuere Vorliebe und Verehrung für Eng¬
land, welches er nächst Thüringen und Westphalen als den Sitz
aller Tugenden ansteht. So lange ich in Paris war, behandelte
er mich als Verlornen Sohn und wollte nichts von mir wissen,
kaum aber hatte er den ersten Brief aus London von mir bekom¬
men, so glaubte er mich auf dem Wege der Besserung und schickt
mir seitdem jährlich vierzig Thaler Courant. Es ist rührend! —
Ach, ich werde nächstens damit meinen Papagei auslösen, und mei¬
nen Pew in der New Town Church bezahlen. S. war ein poli¬
tischer Flüchtling. Ich hatte es mir gleich gedacht, aber ich sah
nur wieder von neuem, wie unschuldig in der Regel die sogenann¬
ten politischen Flüchtlinge aus Deutschland sind. Wegen welcher
Kindereien wird so ein deutscher Jüngling von seiner hohen Schule
hinausgejagt in die stürmische Schule der Heimathlosigkeit. Wie
Gymnasiasten, die mit schartigen Nappieren „Paukerei" spielen, ne-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0592" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182402"/>
            <p xml:id="ID_1406" prev="#ID_1405"> behälter, daneben das europäische Organ und Londoner Tageblatt:<lb/>
Times und der Punch, zwei Journale, die auch in der bescheiden¬<lb/>
sten Kneipe selten fehlen. Der Punch mit seinem prächtigen Humor<lb/>
erschien mir später in solchen Tavernen wie ein Komiker, der im<lb/>
Grunde an Melancholie leidet, und bei dem der Hypochonder<lb/>
durchbricht, sobald er allein ist. Man muß die puritanische Stille<lb/>
und den sorgenvollen Ernst kennen, der hier zuweilen in solchen<lb/>
Gegenden herrscht und selbst die Luft zu drücken scheint, um sich in<lb/>
die Stimmung zu versetzen, die ich meine. Dann contrastirte mir<lb/>
Punch so fürchterlich mit der ganzen Umgebung, daß ich nicht be¬<lb/>
greifen konnte, woher ihm die lustigen Einfälle kamen. Seine Witze<lb/>
schmeckten mir bitter Fnd seine ergötzlichen Holzschnittfiguren schie¬<lb/>
nen mir grinsende Fratzen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1407"> Diesmal war es anders. Die Wirthin brachte in der Zinn¬<lb/>
kanne eine halbe Pint Achtpenny-Ale und entfernte sich. Wir schenk¬<lb/>
ten die Spitzgläser voll und stießen an. Ale aber ist ein liebliches,<lb/>
unversehens erhitzendes Getränk, welches gleichsam eine nachhaltige<lb/>
Steinkohlengluth im Herzen anschürt und selbst die prüde englische<lb/>
Schweigsamkeit bezwingen kann. Und wir waren zwei Deutsche!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1408" next="#ID_1409"> Mein Vater, hub S. an, der ehrliche Pastor in &#x2014; rode, ist<lb/>
ein alter Mann, der mit Ehren grau geworden ist, aber er läßt<lb/>
sich nicht träumen, was man in wenigen Jahren alles durchmachen<lb/>
kann. Er hat eine ungeheuere Vorliebe und Verehrung für Eng¬<lb/>
land, welches er nächst Thüringen und Westphalen als den Sitz<lb/>
aller Tugenden ansteht. So lange ich in Paris war, behandelte<lb/>
er mich als Verlornen Sohn und wollte nichts von mir wissen,<lb/>
kaum aber hatte er den ersten Brief aus London von mir bekom¬<lb/>
men, so glaubte er mich auf dem Wege der Besserung und schickt<lb/>
mir seitdem jährlich vierzig Thaler Courant. Es ist rührend! &#x2014;<lb/>
Ach, ich werde nächstens damit meinen Papagei auslösen, und mei¬<lb/>
nen Pew in der New Town Church bezahlen. S. war ein poli¬<lb/>
tischer Flüchtling. Ich hatte es mir gleich gedacht, aber ich sah<lb/>
nur wieder von neuem, wie unschuldig in der Regel die sogenann¬<lb/>
ten politischen Flüchtlinge aus Deutschland sind. Wegen welcher<lb/>
Kindereien wird so ein deutscher Jüngling von seiner hohen Schule<lb/>
hinausgejagt in die stürmische Schule der Heimathlosigkeit. Wie<lb/>
Gymnasiasten, die mit schartigen Nappieren &#x201E;Paukerei" spielen, ne-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0592] behälter, daneben das europäische Organ und Londoner Tageblatt: Times und der Punch, zwei Journale, die auch in der bescheiden¬ sten Kneipe selten fehlen. Der Punch mit seinem prächtigen Humor erschien mir später in solchen Tavernen wie ein Komiker, der im Grunde an Melancholie leidet, und bei dem der Hypochonder durchbricht, sobald er allein ist. Man muß die puritanische Stille und den sorgenvollen Ernst kennen, der hier zuweilen in solchen Gegenden herrscht und selbst die Luft zu drücken scheint, um sich in die Stimmung zu versetzen, die ich meine. Dann contrastirte mir Punch so fürchterlich mit der ganzen Umgebung, daß ich nicht be¬ greifen konnte, woher ihm die lustigen Einfälle kamen. Seine Witze schmeckten mir bitter Fnd seine ergötzlichen Holzschnittfiguren schie¬ nen mir grinsende Fratzen. Diesmal war es anders. Die Wirthin brachte in der Zinn¬ kanne eine halbe Pint Achtpenny-Ale und entfernte sich. Wir schenk¬ ten die Spitzgläser voll und stießen an. Ale aber ist ein liebliches, unversehens erhitzendes Getränk, welches gleichsam eine nachhaltige Steinkohlengluth im Herzen anschürt und selbst die prüde englische Schweigsamkeit bezwingen kann. Und wir waren zwei Deutsche! Mein Vater, hub S. an, der ehrliche Pastor in — rode, ist ein alter Mann, der mit Ehren grau geworden ist, aber er läßt sich nicht träumen, was man in wenigen Jahren alles durchmachen kann. Er hat eine ungeheuere Vorliebe und Verehrung für Eng¬ land, welches er nächst Thüringen und Westphalen als den Sitz aller Tugenden ansteht. So lange ich in Paris war, behandelte er mich als Verlornen Sohn und wollte nichts von mir wissen, kaum aber hatte er den ersten Brief aus London von mir bekom¬ men, so glaubte er mich auf dem Wege der Besserung und schickt mir seitdem jährlich vierzig Thaler Courant. Es ist rührend! — Ach, ich werde nächstens damit meinen Papagei auslösen, und mei¬ nen Pew in der New Town Church bezahlen. S. war ein poli¬ tischer Flüchtling. Ich hatte es mir gleich gedacht, aber ich sah nur wieder von neuem, wie unschuldig in der Regel die sogenann¬ ten politischen Flüchtlinge aus Deutschland sind. Wegen welcher Kindereien wird so ein deutscher Jüngling von seiner hohen Schule hinausgejagt in die stürmische Schule der Heimathlosigkeit. Wie Gymnasiasten, die mit schartigen Nappieren „Paukerei" spielen, ne-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/592
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/592>, abgerufen am 01.09.2024.