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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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der Gazette de France ruft die verschrieene >l>i""n zu Hülfe. Es ist
weit gekommen. Rousseau wird am Ende noch kanonisirt, wenn auch
nur in Beziehung auf die eine Stelle im vierten Buche des Emile.
Solche Sprünge dürfen indeß im heutigen Frankreich nicht überraschen.
Sie erinnern sich, wie das Journal des Dcbats vor einiger Zeit pa¬
thetisch ausrief: Wir sind die Kinder Voltaire's!

Aber ich will doch eine der dornigen Stellen in den "Bier
Evangelien" anführen, auf welche die Gazette de France besonderes
Gewicht legt. "Christus," sagt Lamennais, "hat nicht bog-
matisirt." Nicht auf eine bestimmte, für ewig stabile theologisch-
philosophische Doctrin hat er die neue Gesellschaft gegründet, sondern
auf die unwandelbare Regel des Rechts und der Pflicht, auf das ge¬
meinsame Gesetz der Völker, deren Band sie (nämlich die neue soeiliK?)
bilden sollte. Außerhalb dieses Gesetzes, welches sich von einem Zeit¬
alter zum andern, nicht in Bezug auf sein unwandelbares Princip,
sondern in dessen Anwendung fortentwickeln sollte, außerhalb dieses Ge¬
setzes, das für die Menschheit in der That der Weg und das Le¬
ben ist, laßt Christus vollkommene Freiheit für die Spekulation, für
die ewige Arbeit des Gedankens, aus der die Wissenschaft geboren
wird, welche, fortwährend neue Erwerbungen machend, sich auch fort¬
während reformirt. Er hat keine Schranke dem menschlichen Geiste
gesetzt, der von Gott bestimmt ist, die Wahrheit bis zu ihren unend¬
lichen Quellen zurück zu verfolgen. Und da man, um fortzuschreiten,
mehr als Einen Weg versuchen muß, so will er nicht, daß die un¬
vermeidliche Meinungsverschiedenheit Diejenigen trenne, welche die
Liebe vereinen soll. Der Glaube, den er verlangt, ist nicht ein Glaube
an doctrinäre Lösungen, welche das ewige Problem von der Natur
und ihrem Schöpfer in sich schließt, sondern der Glaube an seine Vor¬
schriften und, an Den der uns hilft sie zu befolgen. Ist aber dies
das Christenthum, wie man es gewöhnlich auffaßt, lehrt und übt?"

Nicht wahr, das ist für einen gebildeten Deutschen nichts Neues.
Dergleichen haben wir bei uns nicht nur von humanistischen Schrift¬
stellern ^ I" Zschocke, sondern selbst von rationalistischen Kanzeln tau¬
sendmal hören können. Viele werden das mehr als klar und einfach,
sie werden es platt und seicht nennen. Die fromme Gazette de France
nennt es v-ixiiv! Unsere Skeptiker sucht man damit zu schlagen, daß
man sie Nachbeter französischer Philosophen des vorigen Jahrhunderts
nennt: Lamennais dagegen wirft man in der Gazette de France vor,
er sei in das "vague deutsche Wesen" verfallen und mache sich zum
Echo von Uhlich! Was bei uns nicht neu ist, und eben, weil es so
gemeinverständlich und auf der Hand liegend scheint, nicht beachtet, ja
sogar verachtet wird, hat eine viel größere Bedeutung, in Frankreich
ausgesprochen, wo Theorien, Systeme und Dogmen nicht um ihrer
selbst willen einen Werth haben, sondern wo man gleich Ernst macht


der Gazette de France ruft die verschrieene >l>i«»n zu Hülfe. Es ist
weit gekommen. Rousseau wird am Ende noch kanonisirt, wenn auch
nur in Beziehung auf die eine Stelle im vierten Buche des Emile.
Solche Sprünge dürfen indeß im heutigen Frankreich nicht überraschen.
Sie erinnern sich, wie das Journal des Dcbats vor einiger Zeit pa¬
thetisch ausrief: Wir sind die Kinder Voltaire's!

Aber ich will doch eine der dornigen Stellen in den „Bier
Evangelien" anführen, auf welche die Gazette de France besonderes
Gewicht legt. „Christus," sagt Lamennais, „hat nicht bog-
matisirt." Nicht auf eine bestimmte, für ewig stabile theologisch-
philosophische Doctrin hat er die neue Gesellschaft gegründet, sondern
auf die unwandelbare Regel des Rechts und der Pflicht, auf das ge¬
meinsame Gesetz der Völker, deren Band sie (nämlich die neue soeiliK?)
bilden sollte. Außerhalb dieses Gesetzes, welches sich von einem Zeit¬
alter zum andern, nicht in Bezug auf sein unwandelbares Princip,
sondern in dessen Anwendung fortentwickeln sollte, außerhalb dieses Ge¬
setzes, das für die Menschheit in der That der Weg und das Le¬
ben ist, laßt Christus vollkommene Freiheit für die Spekulation, für
die ewige Arbeit des Gedankens, aus der die Wissenschaft geboren
wird, welche, fortwährend neue Erwerbungen machend, sich auch fort¬
während reformirt. Er hat keine Schranke dem menschlichen Geiste
gesetzt, der von Gott bestimmt ist, die Wahrheit bis zu ihren unend¬
lichen Quellen zurück zu verfolgen. Und da man, um fortzuschreiten,
mehr als Einen Weg versuchen muß, so will er nicht, daß die un¬
vermeidliche Meinungsverschiedenheit Diejenigen trenne, welche die
Liebe vereinen soll. Der Glaube, den er verlangt, ist nicht ein Glaube
an doctrinäre Lösungen, welche das ewige Problem von der Natur
und ihrem Schöpfer in sich schließt, sondern der Glaube an seine Vor¬
schriften und, an Den der uns hilft sie zu befolgen. Ist aber dies
das Christenthum, wie man es gewöhnlich auffaßt, lehrt und übt?"

Nicht wahr, das ist für einen gebildeten Deutschen nichts Neues.
Dergleichen haben wir bei uns nicht nur von humanistischen Schrift¬
stellern ^ I» Zschocke, sondern selbst von rationalistischen Kanzeln tau¬
sendmal hören können. Viele werden das mehr als klar und einfach,
sie werden es platt und seicht nennen. Die fromme Gazette de France
nennt es v-ixiiv! Unsere Skeptiker sucht man damit zu schlagen, daß
man sie Nachbeter französischer Philosophen des vorigen Jahrhunderts
nennt: Lamennais dagegen wirft man in der Gazette de France vor,
er sei in das „vague deutsche Wesen" verfallen und mache sich zum
Echo von Uhlich! Was bei uns nicht neu ist, und eben, weil es so
gemeinverständlich und auf der Hand liegend scheint, nicht beachtet, ja
sogar verachtet wird, hat eine viel größere Bedeutung, in Frankreich
ausgesprochen, wo Theorien, Systeme und Dogmen nicht um ihrer
selbst willen einen Werth haben, sondern wo man gleich Ernst macht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/555>, abgerufen am 23.12.2024.