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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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und an die Anwendung aufs Leben denkt. Und Lamennais macht
Ernst, Lamennais dringt aus die politische und sociale Verwirklichung
des Evangeliums. Diese Tendenz ist es, welche wieder die ganze
Energie und den prophetischen Schwung seiner Beredsamkeit im gran¬
diosesten Licht erscheinen läßt. "Wenn du von neuem auf Erden
erschienest, o Jesus!" ruft er, "mit welchem Schmerze würdest du
von neuem deine Schüler fragen: Versteht ihr mich denn noch im¬
mer nicht? Aber was die Schüler nicht verstehen, das Volk beginnt
es zu begreifen. Du wirst nicht umsonst gesprochen haben, o Jesus,
dein Wort ist das Samenkorn, aus welchem der geheimnißvolle
Baum hervorwachsen wird, den die Menschheit erwartet, um in sei¬
nem Schatten auszuruhen." -- Auf mehrern Blättern des Evan¬
geliums heißt es von den Worten Ehristi, daß die Jünger sie nicht
begreifen könnten, und Jesus selbst ist verwundert und betrübt darüber,
paß ihr Geist für seine Lehren so wenig empfänglich ist. Diese Leh¬
ren waren zu erhaben, zu vollkommen in ihrer göttlichen Einfachheit,
zu sehr im Widerspruch mit den gegebenen Ideen und herkömmlichen
Vorurtheilen, um gleich anfangs in ihrem tiefen Sinn erfaßt und
ohne lange, mühsame Vorbereitung, die moralische Richtschnur der
Individuen, so wie die Grundlage aller menschlichen Institutionen
und Gesetze zu werden. Dies ist das größte Hinderniß, welchem das
Christenthum begegnete; ein Hinderniß, welches I8Jahr Hunderte
noch nicht besiegten, ja dessen Ueberwindung durch die
Lange der Zeit nur desto schwerer geworden ist. Denn
wenn einerseits die Worte Christi noch immer nicht
besser, ja in mancher Hinsicht noch weniger verstanden
werden, als von seinen ersten Jüngern, so hat anderer¬
seits die Lange der Zeit, durch den Zauber den sie auf
die Menschen ausübt, den Irrthum gewissermaßen ge¬
heiligt und ihm eine furchtbare Gewalt verliehen."

Andere Blatter, als die Gazette de France, namentlich socialistische,
haben mit Begeisterung die Loosungsworte Lamennais' aufgefangen
und sprechen sehr bündig und populär, natürlich auch schneidender, als
der Meister. "Lamennais", sagt ein socialistisches Journal, "spricht
wohl auch zu den Schriftgelehrten, aber eingedenk der Bergpredigt,
wendet er sich noch öfter an die Menge, an das Volk." -- "Die
Kirche", heißt es sehr kurz in demselben Blatte, "die Kirche hat das
Christenthum nie begriffen. Daher jenes christliche Ideal, das sich der
Einsamkeit zukehrt. Daher jener unselige Dualismus zwischen dem
Reiche der Erde und dem Reiche des Himmels, ein Dualismus, den
Christus- nicht (?) gekannt hat---- Die Kirche hat sich auf sich
selbst beschränkt und ihr Antlitz verhüllt, wie die antiken Priesterinnen,
die Welt oder die Erde Cäsar überlassend, d. h. den alten Machten,
den socialenJdeen des Heidenthums, oder, um mitChristus


und an die Anwendung aufs Leben denkt. Und Lamennais macht
Ernst, Lamennais dringt aus die politische und sociale Verwirklichung
des Evangeliums. Diese Tendenz ist es, welche wieder die ganze
Energie und den prophetischen Schwung seiner Beredsamkeit im gran¬
diosesten Licht erscheinen läßt. „Wenn du von neuem auf Erden
erschienest, o Jesus!" ruft er, „mit welchem Schmerze würdest du
von neuem deine Schüler fragen: Versteht ihr mich denn noch im¬
mer nicht? Aber was die Schüler nicht verstehen, das Volk beginnt
es zu begreifen. Du wirst nicht umsonst gesprochen haben, o Jesus,
dein Wort ist das Samenkorn, aus welchem der geheimnißvolle
Baum hervorwachsen wird, den die Menschheit erwartet, um in sei¬
nem Schatten auszuruhen." — Auf mehrern Blättern des Evan¬
geliums heißt es von den Worten Ehristi, daß die Jünger sie nicht
begreifen könnten, und Jesus selbst ist verwundert und betrübt darüber,
paß ihr Geist für seine Lehren so wenig empfänglich ist. Diese Leh¬
ren waren zu erhaben, zu vollkommen in ihrer göttlichen Einfachheit,
zu sehr im Widerspruch mit den gegebenen Ideen und herkömmlichen
Vorurtheilen, um gleich anfangs in ihrem tiefen Sinn erfaßt und
ohne lange, mühsame Vorbereitung, die moralische Richtschnur der
Individuen, so wie die Grundlage aller menschlichen Institutionen
und Gesetze zu werden. Dies ist das größte Hinderniß, welchem das
Christenthum begegnete; ein Hinderniß, welches I8Jahr Hunderte
noch nicht besiegten, ja dessen Ueberwindung durch die
Lange der Zeit nur desto schwerer geworden ist. Denn
wenn einerseits die Worte Christi noch immer nicht
besser, ja in mancher Hinsicht noch weniger verstanden
werden, als von seinen ersten Jüngern, so hat anderer¬
seits die Lange der Zeit, durch den Zauber den sie auf
die Menschen ausübt, den Irrthum gewissermaßen ge¬
heiligt und ihm eine furchtbare Gewalt verliehen."

Andere Blatter, als die Gazette de France, namentlich socialistische,
haben mit Begeisterung die Loosungsworte Lamennais' aufgefangen
und sprechen sehr bündig und populär, natürlich auch schneidender, als
der Meister. „Lamennais", sagt ein socialistisches Journal, „spricht
wohl auch zu den Schriftgelehrten, aber eingedenk der Bergpredigt,
wendet er sich noch öfter an die Menge, an das Volk." — „Die
Kirche", heißt es sehr kurz in demselben Blatte, „die Kirche hat das
Christenthum nie begriffen. Daher jenes christliche Ideal, das sich der
Einsamkeit zukehrt. Daher jener unselige Dualismus zwischen dem
Reiche der Erde und dem Reiche des Himmels, ein Dualismus, den
Christus- nicht (?) gekannt hat---- Die Kirche hat sich auf sich
selbst beschränkt und ihr Antlitz verhüllt, wie die antiken Priesterinnen,
die Welt oder die Erde Cäsar überlassend, d. h. den alten Machten,
den socialenJdeen des Heidenthums, oder, um mitChristus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/556>, abgerufen am 22.12.2024.