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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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immer mehr gezwungen, die Spekulation auf den Tag aufzugeben
und mehr auf die Zukunft zu rechnen.

Ein wichtiges Buch, obgleich es weniger Lärm macht, als die
Mvstercs und der ewige Jude, ist lus si"-",,"- IZv-uigil"" von dem grei¬
sen, tiefsinnigen Bretagner Lamennais, dem Prediger in der Wüste,
der sich bemüht, das moderne Babylon in eine socialistisch religiöse
Bewegung hineinzureißen; im Gegensatz zu dem rein politischen Streite
zwischen Universität und Clerus. Lamennais gehört unter die Classe je¬
ner seltenen Männer, die gerade mit dem Alter immer kühner und ent¬
schiedener werden, während sonst Himmelsstürmer in der Jugend mit den
Jahren sich zur Zahmheit bekehren und in der Nähe des Todtenbettes als
morsche Betbruder zusammenbrechen. Welch einen Weg hat Lamen¬
nais zurückgelegt von seinem "Versuch über die Indifferenz" bis zu
den "Vier Evangelien!" Ich setze voraus, daß man in Deutschland
sich mit diesem Werke genauer bekannt machen wird, schon weil es
interessant ist, den französischen Forscher mit den deutschen Reforma¬
toren zu vergleichen. Bekanntlich hat Lamennais vom Deutsch- oder
Christkatholicismus -- eine Zuschrift wurde deshalb aus Berlin an
ihn gerichtet -- nichts wissen wollen. Die katholische Kritik in Pa¬
ris sucht ihn jetzt auf eine Linie mit Uhlich zu stellen."

Charakteristisch ist eine Besprechung der "Vier Evangelien in
der Gazette de France. Die deutschen Kirchenzeitungen würden mit
einem deutschen Lamennais nicht so säuberlich und respectvoll verfah¬
ren. Der Feuilletonist der Gazette de France hat nämlich gar kein
Anathema für den abtrünnigen Glaubenshelden, nur die Klage, daß
derselbe "nicht mehr in der Wahrheit sei," wie einst. Das Motto
der Kritik und die Hauptargumente gegen die "Vier Evangelien" sind
Stellen aus Lamennais' frühern Schriften. Noch merkwürdiger aber
ist, daß der orthodoxe Feuilletonist sich nicht scheut, an den Verfasser
des "Contrat Social" zu appelliren. Freilich hütet er sich wohl, an¬
zuführen, was der Bürger von Genf über den Einfluß des Christen¬
thums aus das politische Schicksal der Nationen gesagt hat; er nimmt
nur, was in seine Taktik paßt, eine Stelle aus dem vierten Buch des
"Emile," die mit Begeisterung von dem stylistischen Charakter und
der Moral des Evangeliums, von der Erhabenheit Christi über So-
krates spricht und daraus auf den göttlichen Ursprung des neuen Te¬
stamentes schließt. Daß ein solcher Schluß aus der Trefflichkeit der
evangelischen Sittenlehre auf ihren historischen Ursprung noch immer
himmelweit entfernt ist vom unbedingten orthodoxen Glauben, das
ficht den frommen Feuilletonisten in diesem Augenblicke nicht an, und
er ruft: "Welch erhabene Sprache, welch ein Ton der Wahrheit!"
Rousseau's Styl, heißt es, habe eine Weihe der Kraft, wie die Bibel
selbst. "Nie hat die Vernunft (<" i.iisan) beredtere und überzeugen¬
dere Worte ertönen lassen!" Denken Sie nur, der fromme Streiter


immer mehr gezwungen, die Spekulation auf den Tag aufzugeben
und mehr auf die Zukunft zu rechnen.

Ein wichtiges Buch, obgleich es weniger Lärm macht, als die
Mvstercs und der ewige Jude, ist lus si»-»,,«- IZv-uigil«« von dem grei¬
sen, tiefsinnigen Bretagner Lamennais, dem Prediger in der Wüste,
der sich bemüht, das moderne Babylon in eine socialistisch religiöse
Bewegung hineinzureißen; im Gegensatz zu dem rein politischen Streite
zwischen Universität und Clerus. Lamennais gehört unter die Classe je¬
ner seltenen Männer, die gerade mit dem Alter immer kühner und ent¬
schiedener werden, während sonst Himmelsstürmer in der Jugend mit den
Jahren sich zur Zahmheit bekehren und in der Nähe des Todtenbettes als
morsche Betbruder zusammenbrechen. Welch einen Weg hat Lamen¬
nais zurückgelegt von seinem „Versuch über die Indifferenz" bis zu
den „Vier Evangelien!" Ich setze voraus, daß man in Deutschland
sich mit diesem Werke genauer bekannt machen wird, schon weil es
interessant ist, den französischen Forscher mit den deutschen Reforma¬
toren zu vergleichen. Bekanntlich hat Lamennais vom Deutsch- oder
Christkatholicismus — eine Zuschrift wurde deshalb aus Berlin an
ihn gerichtet — nichts wissen wollen. Die katholische Kritik in Pa¬
ris sucht ihn jetzt auf eine Linie mit Uhlich zu stellen."

Charakteristisch ist eine Besprechung der „Vier Evangelien in
der Gazette de France. Die deutschen Kirchenzeitungen würden mit
einem deutschen Lamennais nicht so säuberlich und respectvoll verfah¬
ren. Der Feuilletonist der Gazette de France hat nämlich gar kein
Anathema für den abtrünnigen Glaubenshelden, nur die Klage, daß
derselbe „nicht mehr in der Wahrheit sei," wie einst. Das Motto
der Kritik und die Hauptargumente gegen die „Vier Evangelien" sind
Stellen aus Lamennais' frühern Schriften. Noch merkwürdiger aber
ist, daß der orthodoxe Feuilletonist sich nicht scheut, an den Verfasser
des „Contrat Social" zu appelliren. Freilich hütet er sich wohl, an¬
zuführen, was der Bürger von Genf über den Einfluß des Christen¬
thums aus das politische Schicksal der Nationen gesagt hat; er nimmt
nur, was in seine Taktik paßt, eine Stelle aus dem vierten Buch des
„Emile," die mit Begeisterung von dem stylistischen Charakter und
der Moral des Evangeliums, von der Erhabenheit Christi über So-
krates spricht und daraus auf den göttlichen Ursprung des neuen Te¬
stamentes schließt. Daß ein solcher Schluß aus der Trefflichkeit der
evangelischen Sittenlehre auf ihren historischen Ursprung noch immer
himmelweit entfernt ist vom unbedingten orthodoxen Glauben, das
ficht den frommen Feuilletonisten in diesem Augenblicke nicht an, und
er ruft: „Welch erhabene Sprache, welch ein Ton der Wahrheit!"
Rousseau's Styl, heißt es, habe eine Weihe der Kraft, wie die Bibel
selbst. „Nie hat die Vernunft (<» i.iisan) beredtere und überzeugen¬
dere Worte ertönen lassen!" Denken Sie nur, der fromme Streiter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/554>, abgerufen am 01.09.2024.