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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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stimmt hat, regelmäßig nur einen halben austheilen. Natürlich. Für
einen halben Silberrubel Stroh, -- da kann sich ein Bauer schon
satt essen.

-- Der wohlbekannte Herausgeber der "Beiträge für praktische
Polizei" ist ein wahres Genie. Abgesehen von seinen polizeilichen
Talenten, besitzt Herr Stieber eine patriotische Phantasie, die man¬
chem Berliner Dichter Ehre machen würde; seine Beitrage werden
künstig nicht blos den polizeilichen, sondern überhaupt den guten
Ton angeben und namentlich als Modenjournal, im höhern und na¬
tionalen Sinn des Wortes, zu Rathe gezogen werden. Neuerdings
haben die Beiträge eine nicht blos praktische, sondern eben so geschmack¬
volle, graciöse und sinnreiche Mode erfunden. Herr Sticber schlägt
vor, daß jeder Preuße, der dazu berechtigt ist, immer die Nationalko¬
karde tragen soll. Dadurch würde man an öffentlichen Orten sogleich
erkennen, in welcher Gesellschaft man sich befindet. Die Idee ist eine
so fruchtbare, daß die großartigen Folgen ihrer Verwirklichung sich
kaum übersehen, geschweige aufzählen lassen. Ein neuer Schwung
wird in das preußische Nationalbewußtsein, ein neuer Glanz und eine
bunte Farbenpracht in das berliner Leben kommen. Man denke sich
einen schönen Frühlingstag unter den Linden! Welche Würde, welche
gegenseitige Achtung läge in dem Gruß eines Paars nationalkokar-
dengeschmückter Hüte! Und wie imposant für den Fremden! Der
Einwurf eines Correspondenten der Deutschen Allgemeinen Zeitung,
daß die Mode eine Verlegenheit für die Ausländer in Berlin wäre,
ist nichtig; die Ausländer könnten sich ja eben so gut, durch das
preußische Beispiel angespornt, bairische, österreichische, lippedetmoldische,
reuß-kreuzsche :c. Nationalkokarden anschaffen, um nicht für ehrlose
Verbrecher angesehen zu werden, dagegen würde man sogleich den Hoch¬
verräther vom Patrioten, einen Thebens von einem Stieber unterschei¬
den. Es ist anzunehmen, daß man in Theatern, Concerten und
Kirchen ohne die Nationalkokarde keinen Zutritt erhielte, und daher
stets in guter Gesellschaft wäre. Ja, die Revolutionärs würden es
gar nicht wagen, sich öffentlich sehen zu lassen; denn Jeder würde
gewissermaßen seinen Paß am Hute tragen. Nun noch eine Frage.
Hat Herr Stieher denn gar nicht an die Preußinnen gedacht? Wenn
man im Theater, bei Kroll oder im Thiergarten unter eine Schaar
weiblicher Preußen geräth, so weiß man auch nicht immer, ob man
sich in guter Gesellschaft befindet. Wohl verstanden, der Begriff
"gute Gesellschaft" ist hier etwas strenger zu nehmen. Wäre es nun
nicht praktisch und wünschenswerth, auch den Preußinnen, je nach ih¬
rer weiblichen Tugend und Unschuld, die Nationalkokarde an die Haube
zu nähen oder nicht?


stimmt hat, regelmäßig nur einen halben austheilen. Natürlich. Für
einen halben Silberrubel Stroh, — da kann sich ein Bauer schon
satt essen.

— Der wohlbekannte Herausgeber der „Beiträge für praktische
Polizei" ist ein wahres Genie. Abgesehen von seinen polizeilichen
Talenten, besitzt Herr Stieber eine patriotische Phantasie, die man¬
chem Berliner Dichter Ehre machen würde; seine Beitrage werden
künstig nicht blos den polizeilichen, sondern überhaupt den guten
Ton angeben und namentlich als Modenjournal, im höhern und na¬
tionalen Sinn des Wortes, zu Rathe gezogen werden. Neuerdings
haben die Beiträge eine nicht blos praktische, sondern eben so geschmack¬
volle, graciöse und sinnreiche Mode erfunden. Herr Sticber schlägt
vor, daß jeder Preuße, der dazu berechtigt ist, immer die Nationalko¬
karde tragen soll. Dadurch würde man an öffentlichen Orten sogleich
erkennen, in welcher Gesellschaft man sich befindet. Die Idee ist eine
so fruchtbare, daß die großartigen Folgen ihrer Verwirklichung sich
kaum übersehen, geschweige aufzählen lassen. Ein neuer Schwung
wird in das preußische Nationalbewußtsein, ein neuer Glanz und eine
bunte Farbenpracht in das berliner Leben kommen. Man denke sich
einen schönen Frühlingstag unter den Linden! Welche Würde, welche
gegenseitige Achtung läge in dem Gruß eines Paars nationalkokar-
dengeschmückter Hüte! Und wie imposant für den Fremden! Der
Einwurf eines Correspondenten der Deutschen Allgemeinen Zeitung,
daß die Mode eine Verlegenheit für die Ausländer in Berlin wäre,
ist nichtig; die Ausländer könnten sich ja eben so gut, durch das
preußische Beispiel angespornt, bairische, österreichische, lippedetmoldische,
reuß-kreuzsche :c. Nationalkokarden anschaffen, um nicht für ehrlose
Verbrecher angesehen zu werden, dagegen würde man sogleich den Hoch¬
verräther vom Patrioten, einen Thebens von einem Stieber unterschei¬
den. Es ist anzunehmen, daß man in Theatern, Concerten und
Kirchen ohne die Nationalkokarde keinen Zutritt erhielte, und daher
stets in guter Gesellschaft wäre. Ja, die Revolutionärs würden es
gar nicht wagen, sich öffentlich sehen zu lassen; denn Jeder würde
gewissermaßen seinen Paß am Hute tragen. Nun noch eine Frage.
Hat Herr Stieher denn gar nicht an die Preußinnen gedacht? Wenn
man im Theater, bei Kroll oder im Thiergarten unter eine Schaar
weiblicher Preußen geräth, so weiß man auch nicht immer, ob man
sich in guter Gesellschaft befindet. Wohl verstanden, der Begriff
„gute Gesellschaft" ist hier etwas strenger zu nehmen. Wäre es nun
nicht praktisch und wünschenswerth, auch den Preußinnen, je nach ih¬
rer weiblichen Tugend und Unschuld, die Nationalkokarde an die Haube
zu nähen oder nicht?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/55>, abgerufen am 01.09.2024.