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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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tritt in einen Festsaal; sie ist ohne Makel an Leib und Seele, dock)
führt sie "an zarter Hand ein wüst Gefolg unheimlicher Gestalten,"
die des Dichters Auge allein sieht; den armen Taucher, der für ihren
Nacken die Perlen aus dem Meer geholt; den Bergmann, zu frü¬
hem Grab geweiht, der das Gold zum Schmuck für ihren Arm ge¬
graben; den kranken Weber und den armen Knaben aus der Fabrik,
der ihr die Bändchen wirkte. "Er selbst ein Seidenwürmlein --
sterben muß es, bevor zum Flug entfaltet seine Schwingen" u. s. w.

Ein kleinerer Dichter als Grün hatte einen herzlosen Prasser, oder
eine hochmüthige Weltdame zum Träger dieser sinnvollen Bilder ge¬
macht, aber poetischer ist es, zu sehen, wie die Sünden der Civilisa¬
tion sich selbst an die unbewußte, unschuldige "Lichtgestalt," an das
Schönste und Liebenswürdigste heften, was der Dichter kennt. Unsere
Zeit, die so reich ist an Tendenzreimen, hat selten ein solches Ten¬
denz gedicht.

-- Ein russischer Professor, Namens Slaskozierski, hat in den
Petersburger Zeitungen einen Vorschlag gemacht, den man für eine
zarte Satnre halten würde, wäre er nicht eben russisch. Der gute
Mann hat nämlich gefunden, daß man der jetzigen Noth sehr leicht,
abhelfen könnte, wenn man den armen Bauern Stroh zu essen gäbe;
denn Stroh, -- nicht jenes, welches manche Leute in ihren Köpfen
tragen, sondern wirkliches Stroh -- enthalte "sehr viel Lichtstoff"
und dieser nähre die "organische Lebenswärme," wie man ja sähe, daß
"die größten Ochsen" bei diesem Futter erzogen würden. Da indeß
die russischen Bauern, durch die Beschaffenheit ihres Magens wenig¬
stens, sich von den Ochsen unterscheiden, so brauchten sie die neuent¬
deckte Speise nicht in derselben Gestalt, wie ihre gehörnten Brüder,
zu genießen: sondern sie könnten das Stroh klein hacken und ein De-
coct davon machen. Das würde einen "zwar nicht wohlschmeckenden,
aber für Bauern ganz gehörigen und nahrhaften Thee geben." Wer
wird noch behaupten wollen, daß die Wissenschaft in Nußland keine
Früchte trage! Welche Revolution in der Staatsökonomie! Wie
würde der russische Adel im Auslande seinen Luxus und die russische
Politik im Auslande ihre Freigebigkeit steigern, wie viel Seelen würde
Rußland jährlich mehr kaufen können, wenn es den neuen Sparthee
unter den Bauern und in der Armee einführte. Die russischen Be¬
amten in den Ostseeprovinzen sind, wie es scheint, auf den Vorschlag
des wohlwollenden Professors bereits eingegangen, wenn auch nicht
für sich selbst. Man hört nämlich, daß sie von den zwei Silberrubeln,
die der Czar für jeden der verhungernden Bauern an der 9feste he-


tritt in einen Festsaal; sie ist ohne Makel an Leib und Seele, dock)
führt sie „an zarter Hand ein wüst Gefolg unheimlicher Gestalten,"
die des Dichters Auge allein sieht; den armen Taucher, der für ihren
Nacken die Perlen aus dem Meer geholt; den Bergmann, zu frü¬
hem Grab geweiht, der das Gold zum Schmuck für ihren Arm ge¬
graben; den kranken Weber und den armen Knaben aus der Fabrik,
der ihr die Bändchen wirkte. „Er selbst ein Seidenwürmlein —
sterben muß es, bevor zum Flug entfaltet seine Schwingen" u. s. w.

Ein kleinerer Dichter als Grün hatte einen herzlosen Prasser, oder
eine hochmüthige Weltdame zum Träger dieser sinnvollen Bilder ge¬
macht, aber poetischer ist es, zu sehen, wie die Sünden der Civilisa¬
tion sich selbst an die unbewußte, unschuldige „Lichtgestalt," an das
Schönste und Liebenswürdigste heften, was der Dichter kennt. Unsere
Zeit, die so reich ist an Tendenzreimen, hat selten ein solches Ten¬
denz gedicht.

— Ein russischer Professor, Namens Slaskozierski, hat in den
Petersburger Zeitungen einen Vorschlag gemacht, den man für eine
zarte Satnre halten würde, wäre er nicht eben russisch. Der gute
Mann hat nämlich gefunden, daß man der jetzigen Noth sehr leicht,
abhelfen könnte, wenn man den armen Bauern Stroh zu essen gäbe;
denn Stroh, — nicht jenes, welches manche Leute in ihren Köpfen
tragen, sondern wirkliches Stroh — enthalte „sehr viel Lichtstoff"
und dieser nähre die „organische Lebenswärme," wie man ja sähe, daß
„die größten Ochsen" bei diesem Futter erzogen würden. Da indeß
die russischen Bauern, durch die Beschaffenheit ihres Magens wenig¬
stens, sich von den Ochsen unterscheiden, so brauchten sie die neuent¬
deckte Speise nicht in derselben Gestalt, wie ihre gehörnten Brüder,
zu genießen: sondern sie könnten das Stroh klein hacken und ein De-
coct davon machen. Das würde einen „zwar nicht wohlschmeckenden,
aber für Bauern ganz gehörigen und nahrhaften Thee geben." Wer
wird noch behaupten wollen, daß die Wissenschaft in Nußland keine
Früchte trage! Welche Revolution in der Staatsökonomie! Wie
würde der russische Adel im Auslande seinen Luxus und die russische
Politik im Auslande ihre Freigebigkeit steigern, wie viel Seelen würde
Rußland jährlich mehr kaufen können, wenn es den neuen Sparthee
unter den Bauern und in der Armee einführte. Die russischen Be¬
amten in den Ostseeprovinzen sind, wie es scheint, auf den Vorschlag
des wohlwollenden Professors bereits eingegangen, wenn auch nicht
für sich selbst. Man hört nämlich, daß sie von den zwei Silberrubeln,
die der Czar für jeden der verhungernden Bauern an der 9feste he-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/54>, abgerufen am 01.09.2024.