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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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kam. Aber weiß man nicht, daß die Bevölkerung Spaniens, z. B.
seit Philipp II., fortwährend zurückgegangen ist? Liegen uns nicht
augenscheinliche Thatsachen vor Augen, die jeden Zahlenbeweis
überflüssig machen? Was ist aus der Bevölkerung Griechenlands
geworden, seit sie erst das byzantinische und dann das türkische
Joch zu tragen hatte? Und was ist aus der ungeheuern Bevöl¬
kerung Roms seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts geworden?
Die arabischen und maurischen Stämme bieten dasselbe Schauspiel.
Endlich kennt man ja die erschreckende Sterblichkeit, die unter den
Indianern von Amerika herrscht, und die reißende Schnelligkeit, mit
der diese Stämme ihrem Erlöschen zueilen. Diese Race -- was
nicht zu vergessen ist -- hat auch ihre Periode der Civilisation und
des Wachsthums gehabt; nur war sie schon damals in Verfall,
als die Europäer mit ihnen zum ersten Mal in Berührung kamen.

Ein zweiter Irrthum, der noch allgemeiner verbreitet ist, als
der erste, betrifft das hohe Alter. Ueberall hört man die ent-
muthigende Behauptung, daß durch das Raffinement der Civili¬
sation der natürliche Tod früher eintrete, als ehedem, daß wir früh¬
zeitiger alt würden.

Zum Theil wird diese Ansicht schon durch die oben angeführ¬
ten Zahlen widerlegt. Allerdings zeigt uns die Zahl der Sterbe¬
fälle, verglichen mit der Zahl der Geburten nur die jedesmalige
Schnelligkeit an, mit welcher sich die Bevölkerungen erneuern, aber
die Vergleichung dieser beiden Elemente mit der Totalziffer der Be¬
völkerung läßt doch auf das normale Ziel des menschlichen Lebens
schließen.

Wir haben gesehen, daß die Zahl der Geburten nirgendwo,
daß aber trotzdem die Bevölkerung überall merklich gewachsen ist;
ein Beweis, daß sich die Bevölkerungen der angeführten Orte heut,
zutage weniger häufig erneuern, d. h. daß das menschliche Leben
länger geworden ist.

Indeß könnte man noch in Bezug auf das Alterthum zwei¬
feln, welches uns leider keine statistischen Tabellen hinterlassen hat.
Wir haben darüber einzelne Notizen gesammelt. Schon Moses be¬
klagt die kurze Dauer des menschlichen Daseins. Achtzig Jahre,
Wenn's hoch kommt! ruft er. Unter den jüdischen Königen hat
keiner länger als stebenzig Jahre gelebt; man kennt das Lebensal-


kam. Aber weiß man nicht, daß die Bevölkerung Spaniens, z. B.
seit Philipp II., fortwährend zurückgegangen ist? Liegen uns nicht
augenscheinliche Thatsachen vor Augen, die jeden Zahlenbeweis
überflüssig machen? Was ist aus der Bevölkerung Griechenlands
geworden, seit sie erst das byzantinische und dann das türkische
Joch zu tragen hatte? Und was ist aus der ungeheuern Bevöl¬
kerung Roms seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts geworden?
Die arabischen und maurischen Stämme bieten dasselbe Schauspiel.
Endlich kennt man ja die erschreckende Sterblichkeit, die unter den
Indianern von Amerika herrscht, und die reißende Schnelligkeit, mit
der diese Stämme ihrem Erlöschen zueilen. Diese Race — was
nicht zu vergessen ist — hat auch ihre Periode der Civilisation und
des Wachsthums gehabt; nur war sie schon damals in Verfall,
als die Europäer mit ihnen zum ersten Mal in Berührung kamen.

Ein zweiter Irrthum, der noch allgemeiner verbreitet ist, als
der erste, betrifft das hohe Alter. Ueberall hört man die ent-
muthigende Behauptung, daß durch das Raffinement der Civili¬
sation der natürliche Tod früher eintrete, als ehedem, daß wir früh¬
zeitiger alt würden.

Zum Theil wird diese Ansicht schon durch die oben angeführ¬
ten Zahlen widerlegt. Allerdings zeigt uns die Zahl der Sterbe¬
fälle, verglichen mit der Zahl der Geburten nur die jedesmalige
Schnelligkeit an, mit welcher sich die Bevölkerungen erneuern, aber
die Vergleichung dieser beiden Elemente mit der Totalziffer der Be¬
völkerung läßt doch auf das normale Ziel des menschlichen Lebens
schließen.

Wir haben gesehen, daß die Zahl der Geburten nirgendwo,
daß aber trotzdem die Bevölkerung überall merklich gewachsen ist;
ein Beweis, daß sich die Bevölkerungen der angeführten Orte heut,
zutage weniger häufig erneuern, d. h. daß das menschliche Leben
länger geworden ist.

Indeß könnte man noch in Bezug auf das Alterthum zwei¬
feln, welches uns leider keine statistischen Tabellen hinterlassen hat.
Wir haben darüber einzelne Notizen gesammelt. Schon Moses be¬
klagt die kurze Dauer des menschlichen Daseins. Achtzig Jahre,
Wenn's hoch kommt! ruft er. Unter den jüdischen Königen hat
keiner länger als stebenzig Jahre gelebt; man kennt das Lebensal-


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[0531] kam. Aber weiß man nicht, daß die Bevölkerung Spaniens, z. B. seit Philipp II., fortwährend zurückgegangen ist? Liegen uns nicht augenscheinliche Thatsachen vor Augen, die jeden Zahlenbeweis überflüssig machen? Was ist aus der Bevölkerung Griechenlands geworden, seit sie erst das byzantinische und dann das türkische Joch zu tragen hatte? Und was ist aus der ungeheuern Bevöl¬ kerung Roms seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts geworden? Die arabischen und maurischen Stämme bieten dasselbe Schauspiel. Endlich kennt man ja die erschreckende Sterblichkeit, die unter den Indianern von Amerika herrscht, und die reißende Schnelligkeit, mit der diese Stämme ihrem Erlöschen zueilen. Diese Race — was nicht zu vergessen ist — hat auch ihre Periode der Civilisation und des Wachsthums gehabt; nur war sie schon damals in Verfall, als die Europäer mit ihnen zum ersten Mal in Berührung kamen. Ein zweiter Irrthum, der noch allgemeiner verbreitet ist, als der erste, betrifft das hohe Alter. Ueberall hört man die ent- muthigende Behauptung, daß durch das Raffinement der Civili¬ sation der natürliche Tod früher eintrete, als ehedem, daß wir früh¬ zeitiger alt würden. Zum Theil wird diese Ansicht schon durch die oben angeführ¬ ten Zahlen widerlegt. Allerdings zeigt uns die Zahl der Sterbe¬ fälle, verglichen mit der Zahl der Geburten nur die jedesmalige Schnelligkeit an, mit welcher sich die Bevölkerungen erneuern, aber die Vergleichung dieser beiden Elemente mit der Totalziffer der Be¬ völkerung läßt doch auf das normale Ziel des menschlichen Lebens schließen. Wir haben gesehen, daß die Zahl der Geburten nirgendwo, daß aber trotzdem die Bevölkerung überall merklich gewachsen ist; ein Beweis, daß sich die Bevölkerungen der angeführten Orte heut, zutage weniger häufig erneuern, d. h. daß das menschliche Leben länger geworden ist. Indeß könnte man noch in Bezug auf das Alterthum zwei¬ feln, welches uns leider keine statistischen Tabellen hinterlassen hat. Wir haben darüber einzelne Notizen gesammelt. Schon Moses be¬ klagt die kurze Dauer des menschlichen Daseins. Achtzig Jahre, Wenn's hoch kommt! ruft er. Unter den jüdischen Königen hat keiner länger als stebenzig Jahre gelebt; man kennt das Lebensal-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/531>, abgerufen am 01.09.2024.