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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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sam voraus berechnet zu haben, und sind dann erstaunt, ein Er¬
eignis, eintreten zu sehen, dessen Ursache uns unbekannt ist. Wir
wußten nicht, daß unser Würfel noch eine, von uns unbemerkte Seite
hatte." -- "Wer Alles voraus sehen könnte, für den gäbe es kei¬
nen Zufall, denn die außerordentlichsten, wie die scheinbar gewöhn¬
lichsten Vorfälle haben ihre natürlichen und nothwendigen Ursachen."
Zur Ausmessung der großen Stufenleiter zwischen "unmöglich" und
"gewiß", d. h. zur Berechnung der jedesmaligen Chancen für und
wider giebt Herr Quetelet dem Leser die arithmetischen Formeln an;
die allgemeinen Gesetze, nach denen das Barometer der Wahr¬
heit steigt oder fällt, erläutert unser Mentor mit einer unwidersteh¬
lichen Klarheit, und macht sie durch die frappantesten Beispiele aus
den verschiedensten Gebieten täglicher Erfahrung anschaulich. Tod-
tenlisten und Versicherungsanstalten, StcrnschnuppenbeobachtlMgen
und Spielbanken zeigen sich in ihrer Einrichtung auf dasselbe Prin¬
cip zurückgeführt.

Auf anmuthigem und doch scharf begrenztem wissenschaftli¬
chem Wege kommen wir zum zweiten Theile des Buches, zur Lehre
von der Durchschnittsrechnung, die der gemeine Menschenverstand
ebenfalls instinctmäßig anwendet, und die wir hier nach strengern
Gesetzen gebrauchen lernen, dann zum dritten Theile, dem Studium
der Ursachen, und endlich zur Statistik, dieser großen politi¬
schen Hilfswissenschaft, deren rationelle Anwendung eben so schwie¬
rig ist, als wichtig für Administration und Gesetzgebung in allen
ihren Zweigen. Ein Thema, dessen Verständniß anfangs nur die
allergewöhnlichste, natürliche Fassungskraft voraussetzte, hat sich uns
allmählich zu einem Gegenstand von universeller Bedeutung erho¬
ben, und durch folgerechte, sokratische Entwicklung auch unser Ver¬
ständniß dafür erweitert; aus den Beispielen, die anfangs wie mü¬
ßige Phantasiespiele unsere Einbildungskraft fesselten, sind nach
und nach die ernsthaftesten Rechencrempel geworden, deren Resul¬
tate zugleich mancherlei nützliche Winke und materielle Beleh¬
rungen enthalten; kurz, der Laie beginnt die Lectüre des Bu¬
ches, dessen geschickte Einleitung auch die stumpfe Wißgier reizen
muß, wird immer mehr gefesselt, und beendet das Studium
desselben mit einer genauern Kenntniß der Mittel und Waffen,
wodurch man sich Einsicht verschafft in die öffentlichen Zu-


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sam voraus berechnet zu haben, und sind dann erstaunt, ein Er¬
eignis, eintreten zu sehen, dessen Ursache uns unbekannt ist. Wir
wußten nicht, daß unser Würfel noch eine, von uns unbemerkte Seite
hatte." — „Wer Alles voraus sehen könnte, für den gäbe es kei¬
nen Zufall, denn die außerordentlichsten, wie die scheinbar gewöhn¬
lichsten Vorfälle haben ihre natürlichen und nothwendigen Ursachen."
Zur Ausmessung der großen Stufenleiter zwischen „unmöglich" und
„gewiß", d. h. zur Berechnung der jedesmaligen Chancen für und
wider giebt Herr Quetelet dem Leser die arithmetischen Formeln an;
die allgemeinen Gesetze, nach denen das Barometer der Wahr¬
heit steigt oder fällt, erläutert unser Mentor mit einer unwidersteh¬
lichen Klarheit, und macht sie durch die frappantesten Beispiele aus
den verschiedensten Gebieten täglicher Erfahrung anschaulich. Tod-
tenlisten und Versicherungsanstalten, StcrnschnuppenbeobachtlMgen
und Spielbanken zeigen sich in ihrer Einrichtung auf dasselbe Prin¬
cip zurückgeführt.

Auf anmuthigem und doch scharf begrenztem wissenschaftli¬
chem Wege kommen wir zum zweiten Theile des Buches, zur Lehre
von der Durchschnittsrechnung, die der gemeine Menschenverstand
ebenfalls instinctmäßig anwendet, und die wir hier nach strengern
Gesetzen gebrauchen lernen, dann zum dritten Theile, dem Studium
der Ursachen, und endlich zur Statistik, dieser großen politi¬
schen Hilfswissenschaft, deren rationelle Anwendung eben so schwie¬
rig ist, als wichtig für Administration und Gesetzgebung in allen
ihren Zweigen. Ein Thema, dessen Verständniß anfangs nur die
allergewöhnlichste, natürliche Fassungskraft voraussetzte, hat sich uns
allmählich zu einem Gegenstand von universeller Bedeutung erho¬
ben, und durch folgerechte, sokratische Entwicklung auch unser Ver¬
ständniß dafür erweitert; aus den Beispielen, die anfangs wie mü¬
ßige Phantasiespiele unsere Einbildungskraft fesselten, sind nach
und nach die ernsthaftesten Rechencrempel geworden, deren Resul¬
tate zugleich mancherlei nützliche Winke und materielle Beleh¬
rungen enthalten; kurz, der Laie beginnt die Lectüre des Bu¬
ches, dessen geschickte Einleitung auch die stumpfe Wißgier reizen
muß, wird immer mehr gefesselt, und beendet das Studium
desselben mit einer genauern Kenntniß der Mittel und Waffen,
wodurch man sich Einsicht verschafft in die öffentlichen Zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/507>, abgerufen am 02.09.2024.