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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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einen Begriff von der Schwierigkeit dieser neuen Methode zu ma-
chen, muß man bedenken, daß jene Ueberreste meist einzeln, verstüm¬
melt und zerbrochen gefunden werden, oft sind die Knochen von
verschiedenen Species durcheinandergeworfen. Denn die Statur,
welche diese Zeugen einer verlorenen Welt erhalten hat, dachte nicht
an die künftigen Forscher auf der jetzigen Erdschichte und nahm sich
nicht die Mühe, es ihnen bequem zu machen Man denke sich nun
diesen babylonischen Haufen von Thierfragmenten; wie Cuviers
Meisterhand jedes Gebein und Gebeinbruchstück dahin fügt, wo es
ursprünglich hingehört hat; wie er alle diese, seit Jahrtausenden ver¬
nichteten Creaturengcschlechter, neu zusammensetzt und nach ihren
Formen, Merkmalen und Attributen ordnet, dann wird man das
nicht mehr eine einfache anatomische Operation, sondern eine Art
von Allserstehung nennen, die auf den Ruf.des Genies und der
Wissenschaft erfolgt.

Cuvier richtete sein Studium vorzugsweise auf die Fossilien
vierfüßiger Thiere, weil sie, obgleich schwieriger zu ordnen,
mehr Gelegenheit zur Vergleichung boten, als Fische und Muschel-
thiere. Zur Charakteristik der scharfsinnigen Methode, mit der er
bei diesem Studium zu Werke ging, mögen folgende Worte aus
einer seiner Vorlesungen dienen: Jede Thierspecies muß aus dem
kleinsten Bruchtheil eines Thierglieds erkannt werden können . . .
denn jedes organische Wesen bildet ein Ganzes, dessen einzelne
Theile sich bis ins kleinste Detail gegenseitig entsprechen und be¬
dingen. -- Sind die Eingeweide eines Thieres so organisirt, daß
es nur Fleisch, und zwar rohes Fleisch von getödteten Creaturen
verdauen kann, so müssen auch die Kinnladen zum Zerreißen, die
Zähne zum Zerschneiden, die Krallen oder Klauen zum Eingreifen,
die Bewegungsorgane zum Ereilen und die Sinneswerkzeuge zum
Erspähen der Beute gebildet sein. Selbst im Gehirn muß das Or¬
gan für den Jnstinct des Lauerns und Schlingenlegens sich vorfin¬
den. Dies werden die allgemeinen Bedingungen des fleischfressen¬
den Thierreiches sein: jedes einzelne Thier dieses Reiches muß sie
nothwendig alle besitzen, sonst hätte seine Gattung nicht bestehen
können, aber außer den allgemeinen Bedingungen gibt es noch be¬
sondere und relative, die sich wieder nach der Größe, Species,
und dem Wohnort der Beute richten, die dem Thier bestimmt ist...


einen Begriff von der Schwierigkeit dieser neuen Methode zu ma-
chen, muß man bedenken, daß jene Ueberreste meist einzeln, verstüm¬
melt und zerbrochen gefunden werden, oft sind die Knochen von
verschiedenen Species durcheinandergeworfen. Denn die Statur,
welche diese Zeugen einer verlorenen Welt erhalten hat, dachte nicht
an die künftigen Forscher auf der jetzigen Erdschichte und nahm sich
nicht die Mühe, es ihnen bequem zu machen Man denke sich nun
diesen babylonischen Haufen von Thierfragmenten; wie Cuviers
Meisterhand jedes Gebein und Gebeinbruchstück dahin fügt, wo es
ursprünglich hingehört hat; wie er alle diese, seit Jahrtausenden ver¬
nichteten Creaturengcschlechter, neu zusammensetzt und nach ihren
Formen, Merkmalen und Attributen ordnet, dann wird man das
nicht mehr eine einfache anatomische Operation, sondern eine Art
von Allserstehung nennen, die auf den Ruf.des Genies und der
Wissenschaft erfolgt.

Cuvier richtete sein Studium vorzugsweise auf die Fossilien
vierfüßiger Thiere, weil sie, obgleich schwieriger zu ordnen,
mehr Gelegenheit zur Vergleichung boten, als Fische und Muschel-
thiere. Zur Charakteristik der scharfsinnigen Methode, mit der er
bei diesem Studium zu Werke ging, mögen folgende Worte aus
einer seiner Vorlesungen dienen: Jede Thierspecies muß aus dem
kleinsten Bruchtheil eines Thierglieds erkannt werden können . . .
denn jedes organische Wesen bildet ein Ganzes, dessen einzelne
Theile sich bis ins kleinste Detail gegenseitig entsprechen und be¬
dingen. — Sind die Eingeweide eines Thieres so organisirt, daß
es nur Fleisch, und zwar rohes Fleisch von getödteten Creaturen
verdauen kann, so müssen auch die Kinnladen zum Zerreißen, die
Zähne zum Zerschneiden, die Krallen oder Klauen zum Eingreifen,
die Bewegungsorgane zum Ereilen und die Sinneswerkzeuge zum
Erspähen der Beute gebildet sein. Selbst im Gehirn muß das Or¬
gan für den Jnstinct des Lauerns und Schlingenlegens sich vorfin¬
den. Dies werden die allgemeinen Bedingungen des fleischfressen¬
den Thierreiches sein: jedes einzelne Thier dieses Reiches muß sie
nothwendig alle besitzen, sonst hätte seine Gattung nicht bestehen
können, aber außer den allgemeinen Bedingungen gibt es noch be¬
sondere und relative, die sich wieder nach der Größe, Species,
und dem Wohnort der Beute richten, die dem Thier bestimmt ist...


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[0312] einen Begriff von der Schwierigkeit dieser neuen Methode zu ma- chen, muß man bedenken, daß jene Ueberreste meist einzeln, verstüm¬ melt und zerbrochen gefunden werden, oft sind die Knochen von verschiedenen Species durcheinandergeworfen. Denn die Statur, welche diese Zeugen einer verlorenen Welt erhalten hat, dachte nicht an die künftigen Forscher auf der jetzigen Erdschichte und nahm sich nicht die Mühe, es ihnen bequem zu machen Man denke sich nun diesen babylonischen Haufen von Thierfragmenten; wie Cuviers Meisterhand jedes Gebein und Gebeinbruchstück dahin fügt, wo es ursprünglich hingehört hat; wie er alle diese, seit Jahrtausenden ver¬ nichteten Creaturengcschlechter, neu zusammensetzt und nach ihren Formen, Merkmalen und Attributen ordnet, dann wird man das nicht mehr eine einfache anatomische Operation, sondern eine Art von Allserstehung nennen, die auf den Ruf.des Genies und der Wissenschaft erfolgt. Cuvier richtete sein Studium vorzugsweise auf die Fossilien vierfüßiger Thiere, weil sie, obgleich schwieriger zu ordnen, mehr Gelegenheit zur Vergleichung boten, als Fische und Muschel- thiere. Zur Charakteristik der scharfsinnigen Methode, mit der er bei diesem Studium zu Werke ging, mögen folgende Worte aus einer seiner Vorlesungen dienen: Jede Thierspecies muß aus dem kleinsten Bruchtheil eines Thierglieds erkannt werden können . . . denn jedes organische Wesen bildet ein Ganzes, dessen einzelne Theile sich bis ins kleinste Detail gegenseitig entsprechen und be¬ dingen. — Sind die Eingeweide eines Thieres so organisirt, daß es nur Fleisch, und zwar rohes Fleisch von getödteten Creaturen verdauen kann, so müssen auch die Kinnladen zum Zerreißen, die Zähne zum Zerschneiden, die Krallen oder Klauen zum Eingreifen, die Bewegungsorgane zum Ereilen und die Sinneswerkzeuge zum Erspähen der Beute gebildet sein. Selbst im Gehirn muß das Or¬ gan für den Jnstinct des Lauerns und Schlingenlegens sich vorfin¬ den. Dies werden die allgemeinen Bedingungen des fleischfressen¬ den Thierreiches sein: jedes einzelne Thier dieses Reiches muß sie nothwendig alle besitzen, sonst hätte seine Gattung nicht bestehen können, aber außer den allgemeinen Bedingungen gibt es noch be¬ sondere und relative, die sich wieder nach der Größe, Species, und dem Wohnort der Beute richten, die dem Thier bestimmt ist...

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/312>, abgerufen am 02.09.2024.