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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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darüber phantastische Hypothesen. Erst gegen Ende des 16. Jahr¬
hunderts wagte Bernard von Palissy die Behauptung, daß die ver¬
steinerten Muscheln und Seethiere wirkliche Erzeugnisse des Meeres
seien. Im 18. Jahrhundert schuf das genauere Studium dieser
Nnturantiquitäten eine Masse verschiedener und verworrener Systeme,
in welche endlich Cuvier Licht und Ordnung brachte.

Im Jahre 1769 wies Pallas nach, daß der Elephant, das
Rhinoceros und das Flußpferd einst in den nördlichsten Erdgegen¬
den gehaust haben müßten, denn im kältesten Sibirien entdeckte man
ein gigantisches Rhinoceros, dessen Haut und Fleisch sich in der
gefrorenen Erde vollkommen erhalten hatte, und im Jahre 1806
fand man im Eismeer ein wohlerhaltenes Mammuth, dessen
Hauer 12 Fuß lang und zusammen 560 Pfund schwer waren.
Buffon hatte auf die ersten Entdeckungen dieser Art sein System
von der "allmäligen Erkältung der Polargegenden" gebaut, und
Pallas hatte angenommen, daß ein Losbruch der südöstlichen
Gewässer die Thiere Indiens in den Norden geschwemmt habe.
Allein Cuvier bewies, daß die Erkältung der Polargegenden eine
plötzliche gewesen sein, und daß derselbe Moment, der das Rhinoce¬
ros getödtet, auch die Polargegenden zu Eis gemacht haben müsse,
weil sonst die Fäulniß das Thier zersetzt haben würde; ferner zeigte
er, daß jene Thierleichen nicht aus Indien gekommen sein können,
weil sie nicht nur von den indischen, sondern überhaupt von allen
heut lebenden Thierracen wesentlich verschieden seien.

> Bereits am I. Pluviose des Jahres IV. der Republik las der
junge Cuvier öffentlich ein Memoire vor über die fossilen Elephan¬
ten, verglichen mit den jetzt lebenden. Wenn man sich fragt, sagte
er, warum man so viel Ueberreste von unbekannten Thierracen fin¬
det und nie von einer Race, die den bekannten gleicht, so wird man
einsehen, wie wahrscheinlich es ist, daß es vor dieser Schöpfung
eine andere gegeben hat, deren Creamrcn durch eine große Erdum-
wälzung ausgerottet wurden. -- Somit war der Gedanke einer
verloren gegangenen Schöpfung ausgesprochen und der Schleier
gelüftet von so viel räthselhaften Erscheinungen. Aber um diesen
Gedanken in ein positives Resultat zu verwandeln, mußten erst alle
Fossilien aus allen Theilen der Erde gesammelt, studirt, und mit
den heutigen Thiergeschlechtern verglichen werden. Und um sich


darüber phantastische Hypothesen. Erst gegen Ende des 16. Jahr¬
hunderts wagte Bernard von Palissy die Behauptung, daß die ver¬
steinerten Muscheln und Seethiere wirkliche Erzeugnisse des Meeres
seien. Im 18. Jahrhundert schuf das genauere Studium dieser
Nnturantiquitäten eine Masse verschiedener und verworrener Systeme,
in welche endlich Cuvier Licht und Ordnung brachte.

Im Jahre 1769 wies Pallas nach, daß der Elephant, das
Rhinoceros und das Flußpferd einst in den nördlichsten Erdgegen¬
den gehaust haben müßten, denn im kältesten Sibirien entdeckte man
ein gigantisches Rhinoceros, dessen Haut und Fleisch sich in der
gefrorenen Erde vollkommen erhalten hatte, und im Jahre 1806
fand man im Eismeer ein wohlerhaltenes Mammuth, dessen
Hauer 12 Fuß lang und zusammen 560 Pfund schwer waren.
Buffon hatte auf die ersten Entdeckungen dieser Art sein System
von der „allmäligen Erkältung der Polargegenden" gebaut, und
Pallas hatte angenommen, daß ein Losbruch der südöstlichen
Gewässer die Thiere Indiens in den Norden geschwemmt habe.
Allein Cuvier bewies, daß die Erkältung der Polargegenden eine
plötzliche gewesen sein, und daß derselbe Moment, der das Rhinoce¬
ros getödtet, auch die Polargegenden zu Eis gemacht haben müsse,
weil sonst die Fäulniß das Thier zersetzt haben würde; ferner zeigte
er, daß jene Thierleichen nicht aus Indien gekommen sein können,
weil sie nicht nur von den indischen, sondern überhaupt von allen
heut lebenden Thierracen wesentlich verschieden seien.

> Bereits am I. Pluviose des Jahres IV. der Republik las der
junge Cuvier öffentlich ein Memoire vor über die fossilen Elephan¬
ten, verglichen mit den jetzt lebenden. Wenn man sich fragt, sagte
er, warum man so viel Ueberreste von unbekannten Thierracen fin¬
det und nie von einer Race, die den bekannten gleicht, so wird man
einsehen, wie wahrscheinlich es ist, daß es vor dieser Schöpfung
eine andere gegeben hat, deren Creamrcn durch eine große Erdum-
wälzung ausgerottet wurden. — Somit war der Gedanke einer
verloren gegangenen Schöpfung ausgesprochen und der Schleier
gelüftet von so viel räthselhaften Erscheinungen. Aber um diesen
Gedanken in ein positives Resultat zu verwandeln, mußten erst alle
Fossilien aus allen Theilen der Erde gesammelt, studirt, und mit
den heutigen Thiergeschlechtern verglichen werden. Und um sich


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[0311] darüber phantastische Hypothesen. Erst gegen Ende des 16. Jahr¬ hunderts wagte Bernard von Palissy die Behauptung, daß die ver¬ steinerten Muscheln und Seethiere wirkliche Erzeugnisse des Meeres seien. Im 18. Jahrhundert schuf das genauere Studium dieser Nnturantiquitäten eine Masse verschiedener und verworrener Systeme, in welche endlich Cuvier Licht und Ordnung brachte. Im Jahre 1769 wies Pallas nach, daß der Elephant, das Rhinoceros und das Flußpferd einst in den nördlichsten Erdgegen¬ den gehaust haben müßten, denn im kältesten Sibirien entdeckte man ein gigantisches Rhinoceros, dessen Haut und Fleisch sich in der gefrorenen Erde vollkommen erhalten hatte, und im Jahre 1806 fand man im Eismeer ein wohlerhaltenes Mammuth, dessen Hauer 12 Fuß lang und zusammen 560 Pfund schwer waren. Buffon hatte auf die ersten Entdeckungen dieser Art sein System von der „allmäligen Erkältung der Polargegenden" gebaut, und Pallas hatte angenommen, daß ein Losbruch der südöstlichen Gewässer die Thiere Indiens in den Norden geschwemmt habe. Allein Cuvier bewies, daß die Erkältung der Polargegenden eine plötzliche gewesen sein, und daß derselbe Moment, der das Rhinoce¬ ros getödtet, auch die Polargegenden zu Eis gemacht haben müsse, weil sonst die Fäulniß das Thier zersetzt haben würde; ferner zeigte er, daß jene Thierleichen nicht aus Indien gekommen sein können, weil sie nicht nur von den indischen, sondern überhaupt von allen heut lebenden Thierracen wesentlich verschieden seien. > Bereits am I. Pluviose des Jahres IV. der Republik las der junge Cuvier öffentlich ein Memoire vor über die fossilen Elephan¬ ten, verglichen mit den jetzt lebenden. Wenn man sich fragt, sagte er, warum man so viel Ueberreste von unbekannten Thierracen fin¬ det und nie von einer Race, die den bekannten gleicht, so wird man einsehen, wie wahrscheinlich es ist, daß es vor dieser Schöpfung eine andere gegeben hat, deren Creamrcn durch eine große Erdum- wälzung ausgerottet wurden. — Somit war der Gedanke einer verloren gegangenen Schöpfung ausgesprochen und der Schleier gelüftet von so viel räthselhaften Erscheinungen. Aber um diesen Gedanken in ein positives Resultat zu verwandeln, mußten erst alle Fossilien aus allen Theilen der Erde gesammelt, studirt, und mit den heutigen Thiergeschlechtern verglichen werden. Und um sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/311>, abgerufen am 02.09.2024.