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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Im September 1824 kam er nach Paris, ohne Bestimmung,
ohne Hilfsquellen, gequält von der Unzufriedenheit seiner Eltern,
die darauf drangen, daß er für die verlorene Carriere sich eine
neue Stellung erobere. Er wollte Anfangs die Rechte studiren,
um Advocat zu werden, aber er war nach Se. Cyr gekommen,
ohne zuvor den philosophischen Cursus durchzumachen, und hatte
daher jetzt nicht das nothwendige Baccalaureatsdiplom. Obwohl
er in der Garnison und in den Gefängnissen von Toulouse und
Perpignan zu seiner eigenen Bildung viel geschrieben und gelesen
hatte, dachte er doch nicht an eine literarische Laufbahn. Seine
Familie suchte ihn zu bereden, sich dem Handelsstande zu widmen.

Herr Hambcrt, der ihn bei seiner Berufung ans Cassations-
gcricht vertheidigt hatte, gab ihm Empfehlungsschreiben an Lafitte;
es war die Rede davon, ihn bei einem Banquierhause unterzubrin¬
gen, aber auch diese Schritte führten zu Nichts, und schon fing der
junge Carrel an zu merken, daß es nicht so-leicht ist, in Paris
sein Brod zu verdienen, wie in Catalonien Krieg zu führen, als
sein Freund Arnold Scheffer ihn dem Historiker Augustin Thierry
als Secretär vorschlug. Thierry bedürfte damals um so mehr ei¬
nes Gehilfen von Geist und Bildung, als er mit seiner Geschichte
der "Eroberung Englands durch die Normannen" beschäftigt war,
und sehr an den Augen litt.

Der berühmte Geschichtschreiber gab dem jungen Officier einen
Gehalt, der der Soulieulenantsgage gleich war, und behandelte
ihn dabei mit dem größten Zartgefühle. Um ihn das Untergeord¬
nete seiner Stellung nicht fühlen zu lassen, stellte er ihm die ver¬
langte Arbeit als die eines Schriftstellers dar, der ihn, den be¬
rühmten Geschichtschreiber, in seinen historischen Forschungen un¬
terstützen solle, und sagte: "die Arbeit wird nicht sehr anziehend
sein, aber sie kann vielleicht doch manches Lehrreiche bieten." Carrel
nahm diese Stellung mit dem dankbarsten Eifer an. Er hatte in
der That nicht blos die Correcturen von Thierry'ö Werk zu le¬
sen, sondern auch Bücher zu durchstöbern, Anmerkungen zumachen
und Notizen zu sammeln. ^Dergleichen Arbeiten bleiben nur in
talentlosen Händen unfruchtbar; ein geistvoller Kopf findet auch
darin Gelegenheit, seinen Scharfsinn zu üben und seinen Geschmack
zu bilden. Carrel entwickelte gleich Anfangs dabei ein solches Ge-


Im September 1824 kam er nach Paris, ohne Bestimmung,
ohne Hilfsquellen, gequält von der Unzufriedenheit seiner Eltern,
die darauf drangen, daß er für die verlorene Carriere sich eine
neue Stellung erobere. Er wollte Anfangs die Rechte studiren,
um Advocat zu werden, aber er war nach Se. Cyr gekommen,
ohne zuvor den philosophischen Cursus durchzumachen, und hatte
daher jetzt nicht das nothwendige Baccalaureatsdiplom. Obwohl
er in der Garnison und in den Gefängnissen von Toulouse und
Perpignan zu seiner eigenen Bildung viel geschrieben und gelesen
hatte, dachte er doch nicht an eine literarische Laufbahn. Seine
Familie suchte ihn zu bereden, sich dem Handelsstande zu widmen.

Herr Hambcrt, der ihn bei seiner Berufung ans Cassations-
gcricht vertheidigt hatte, gab ihm Empfehlungsschreiben an Lafitte;
es war die Rede davon, ihn bei einem Banquierhause unterzubrin¬
gen, aber auch diese Schritte führten zu Nichts, und schon fing der
junge Carrel an zu merken, daß es nicht so-leicht ist, in Paris
sein Brod zu verdienen, wie in Catalonien Krieg zu führen, als
sein Freund Arnold Scheffer ihn dem Historiker Augustin Thierry
als Secretär vorschlug. Thierry bedürfte damals um so mehr ei¬
nes Gehilfen von Geist und Bildung, als er mit seiner Geschichte
der „Eroberung Englands durch die Normannen" beschäftigt war,
und sehr an den Augen litt.

Der berühmte Geschichtschreiber gab dem jungen Officier einen
Gehalt, der der Soulieulenantsgage gleich war, und behandelte
ihn dabei mit dem größten Zartgefühle. Um ihn das Untergeord¬
nete seiner Stellung nicht fühlen zu lassen, stellte er ihm die ver¬
langte Arbeit als die eines Schriftstellers dar, der ihn, den be¬
rühmten Geschichtschreiber, in seinen historischen Forschungen un¬
terstützen solle, und sagte: „die Arbeit wird nicht sehr anziehend
sein, aber sie kann vielleicht doch manches Lehrreiche bieten." Carrel
nahm diese Stellung mit dem dankbarsten Eifer an. Er hatte in
der That nicht blos die Correcturen von Thierry'ö Werk zu le¬
sen, sondern auch Bücher zu durchstöbern, Anmerkungen zumachen
und Notizen zu sammeln. ^Dergleichen Arbeiten bleiben nur in
talentlosen Händen unfruchtbar; ein geistvoller Kopf findet auch
darin Gelegenheit, seinen Scharfsinn zu üben und seinen Geschmack
zu bilden. Carrel entwickelte gleich Anfangs dabei ein solches Ge-


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[0159] Im September 1824 kam er nach Paris, ohne Bestimmung, ohne Hilfsquellen, gequält von der Unzufriedenheit seiner Eltern, die darauf drangen, daß er für die verlorene Carriere sich eine neue Stellung erobere. Er wollte Anfangs die Rechte studiren, um Advocat zu werden, aber er war nach Se. Cyr gekommen, ohne zuvor den philosophischen Cursus durchzumachen, und hatte daher jetzt nicht das nothwendige Baccalaureatsdiplom. Obwohl er in der Garnison und in den Gefängnissen von Toulouse und Perpignan zu seiner eigenen Bildung viel geschrieben und gelesen hatte, dachte er doch nicht an eine literarische Laufbahn. Seine Familie suchte ihn zu bereden, sich dem Handelsstande zu widmen. Herr Hambcrt, der ihn bei seiner Berufung ans Cassations- gcricht vertheidigt hatte, gab ihm Empfehlungsschreiben an Lafitte; es war die Rede davon, ihn bei einem Banquierhause unterzubrin¬ gen, aber auch diese Schritte führten zu Nichts, und schon fing der junge Carrel an zu merken, daß es nicht so-leicht ist, in Paris sein Brod zu verdienen, wie in Catalonien Krieg zu führen, als sein Freund Arnold Scheffer ihn dem Historiker Augustin Thierry als Secretär vorschlug. Thierry bedürfte damals um so mehr ei¬ nes Gehilfen von Geist und Bildung, als er mit seiner Geschichte der „Eroberung Englands durch die Normannen" beschäftigt war, und sehr an den Augen litt. Der berühmte Geschichtschreiber gab dem jungen Officier einen Gehalt, der der Soulieulenantsgage gleich war, und behandelte ihn dabei mit dem größten Zartgefühle. Um ihn das Untergeord¬ nete seiner Stellung nicht fühlen zu lassen, stellte er ihm die ver¬ langte Arbeit als die eines Schriftstellers dar, der ihn, den be¬ rühmten Geschichtschreiber, in seinen historischen Forschungen un¬ terstützen solle, und sagte: „die Arbeit wird nicht sehr anziehend sein, aber sie kann vielleicht doch manches Lehrreiche bieten." Carrel nahm diese Stellung mit dem dankbarsten Eifer an. Er hatte in der That nicht blos die Correcturen von Thierry'ö Werk zu le¬ sen, sondern auch Bücher zu durchstöbern, Anmerkungen zumachen und Notizen zu sammeln. ^Dergleichen Arbeiten bleiben nur in talentlosen Händen unfruchtbar; ein geistvoller Kopf findet auch darin Gelegenheit, seinen Scharfsinn zu üben und seinen Geschmack zu bilden. Carrel entwickelte gleich Anfangs dabei ein solches Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/159>, abgerufen am 02.09.2024.