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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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beseitigen. Wohl aber ist die Leipziger Bühne für eine Stadt zweiten
Ranges, für eine Stadt von fünfzig bis sechzigtausend Einwohnern
eine ungemein tüchtige, sie besitzt vier bis fünf Mitglieder, um die sie
jede Bühne Deutschlands beneiden darf und was den übrigen an Ta¬
lent und Künstlerschaft abgeht, das weiß die Regie des Schauspiels
(bei der Oper kann kein Regisseur die Lücken füllen) durch kluge Be¬
nutzung der Kräfte, durch ein geschlossenes Ensemble oft so zu ver¬
decken, daß man die Mangel viel schwacher, manchmal gar nicht bemerkt.

Dieses Verdienst muß man dem Oberregisseur, Herrn Marr, selbst
als sein Gegner zugestehen. Herr Marr, den Scharfsinn, Weltkennt¬
niß und Bühnenerfahrung zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten
deutscher Bühne machen, ist eine jener cholerischen Naturen, die, was
sie einmal ergreifen, mit Energie festhalten, ihre Entschlüsse im In¬
nern so lange verkochen, bis sich der entscheidende Moment findet, um
sie auszuführen. Solche energische Charaktere sind an der Spitze viel
wichtigerer Institute von großem Einflüsse, geschweige an der Spitze
eines Theaters. Aber solche Energie hat oft eine Hinneigung zu
Tyrannei und erwirbt sich jedenfalls ein Heer von Gegnern unter Allen
deren Privatinteressen sie in ihrer Unbeugsamkeit verletzt. Gesellt sich
hierzu noch eine gewisse Verschlossenheit, die ihre Endgedanken immer
verhüllt hält, so werden die Gegner noch gereizter und die Verdächti¬
gungen nehmen kein Ende. Wir selbst sind der Meinung, daß, wenn
irgend ein Bühnenleiter dem Leipziger Theater einen kräftigen Organis¬
mus sichern kann, so ist es Herr Marr, so wie umgekehrt er ganz
der Mann wäre, Alles was jetzt durch ihn und die Direktion mit
Mühe aufgebaut wurde, allmälig zu zerbröckeln, wenn er es sich vor¬
nehmen würde. Solche Zerstörungsabsi'edlen hat ihm im Laufe des
verflossenen Sommers ein Gerücht in Bezug auf die Oper zugescho¬
ben und wir erlebten einige Theaterscenen, ganz in der Weise des
Parterres in Tieck's gestiefelten Kater. Die Leipziger Oper ist in
einigen Hauptfachern unverzeihlich schwach; was jedoch das Ensemble
und die mise vn haomo betrifft, und dafür allein kann man die Re¬
gie verantwortlich machen > so ist Mühe, Fleiß und guter Wille un¬
verkennbar, dies haben wir erst in letzterer Zeit durch die Scenirung
der Haimonskinder, Stradella und der Hugenotten gesehen. Etwas
Liebenswürdigkeit mehr und etwas Leidenschaftlichkeit weniger könnten
allerdings Herrn Marr nicht schaden; aber wenn derlei Nebendinge
und einzelne Charakterschwächen den Maaßstab zur Geltung und Beur¬
theilung eines Künstlers abgeben sollten, welcher unserer berühmten
Schauspieler würde vor einem solchen Gericht bestehen? Das Excen¬
trische ist oft wesentlich mit dem Genie des Künstlers verbunden. --
Traurig wäre es jedenfalls, wenn Marr's Gegner dies fortgesetzt aus¬
beuten würden, um einem Manne seinen Wirkungskreis zu verleiden,
der -- dies dürfen wir sagen, ohne für seine Fehler blind zu sein --


Grcnzioten. I8"S. IV.

beseitigen. Wohl aber ist die Leipziger Bühne für eine Stadt zweiten
Ranges, für eine Stadt von fünfzig bis sechzigtausend Einwohnern
eine ungemein tüchtige, sie besitzt vier bis fünf Mitglieder, um die sie
jede Bühne Deutschlands beneiden darf und was den übrigen an Ta¬
lent und Künstlerschaft abgeht, das weiß die Regie des Schauspiels
(bei der Oper kann kein Regisseur die Lücken füllen) durch kluge Be¬
nutzung der Kräfte, durch ein geschlossenes Ensemble oft so zu ver¬
decken, daß man die Mangel viel schwacher, manchmal gar nicht bemerkt.

Dieses Verdienst muß man dem Oberregisseur, Herrn Marr, selbst
als sein Gegner zugestehen. Herr Marr, den Scharfsinn, Weltkennt¬
niß und Bühnenerfahrung zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten
deutscher Bühne machen, ist eine jener cholerischen Naturen, die, was
sie einmal ergreifen, mit Energie festhalten, ihre Entschlüsse im In¬
nern so lange verkochen, bis sich der entscheidende Moment findet, um
sie auszuführen. Solche energische Charaktere sind an der Spitze viel
wichtigerer Institute von großem Einflüsse, geschweige an der Spitze
eines Theaters. Aber solche Energie hat oft eine Hinneigung zu
Tyrannei und erwirbt sich jedenfalls ein Heer von Gegnern unter Allen
deren Privatinteressen sie in ihrer Unbeugsamkeit verletzt. Gesellt sich
hierzu noch eine gewisse Verschlossenheit, die ihre Endgedanken immer
verhüllt hält, so werden die Gegner noch gereizter und die Verdächti¬
gungen nehmen kein Ende. Wir selbst sind der Meinung, daß, wenn
irgend ein Bühnenleiter dem Leipziger Theater einen kräftigen Organis¬
mus sichern kann, so ist es Herr Marr, so wie umgekehrt er ganz
der Mann wäre, Alles was jetzt durch ihn und die Direktion mit
Mühe aufgebaut wurde, allmälig zu zerbröckeln, wenn er es sich vor¬
nehmen würde. Solche Zerstörungsabsi'edlen hat ihm im Laufe des
verflossenen Sommers ein Gerücht in Bezug auf die Oper zugescho¬
ben und wir erlebten einige Theaterscenen, ganz in der Weise des
Parterres in Tieck's gestiefelten Kater. Die Leipziger Oper ist in
einigen Hauptfachern unverzeihlich schwach; was jedoch das Ensemble
und die mise vn haomo betrifft, und dafür allein kann man die Re¬
gie verantwortlich machen > so ist Mühe, Fleiß und guter Wille un¬
verkennbar, dies haben wir erst in letzterer Zeit durch die Scenirung
der Haimonskinder, Stradella und der Hugenotten gesehen. Etwas
Liebenswürdigkeit mehr und etwas Leidenschaftlichkeit weniger könnten
allerdings Herrn Marr nicht schaden; aber wenn derlei Nebendinge
und einzelne Charakterschwächen den Maaßstab zur Geltung und Beur¬
theilung eines Künstlers abgeben sollten, welcher unserer berühmten
Schauspieler würde vor einem solchen Gericht bestehen? Das Excen¬
trische ist oft wesentlich mit dem Genie des Künstlers verbunden. —
Traurig wäre es jedenfalls, wenn Marr's Gegner dies fortgesetzt aus¬
beuten würden, um einem Manne seinen Wirkungskreis zu verleiden,
der — dies dürfen wir sagen, ohne für seine Fehler blind zu sein —


Grcnzioten. I8«S. IV.
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[0097] beseitigen. Wohl aber ist die Leipziger Bühne für eine Stadt zweiten Ranges, für eine Stadt von fünfzig bis sechzigtausend Einwohnern eine ungemein tüchtige, sie besitzt vier bis fünf Mitglieder, um die sie jede Bühne Deutschlands beneiden darf und was den übrigen an Ta¬ lent und Künstlerschaft abgeht, das weiß die Regie des Schauspiels (bei der Oper kann kein Regisseur die Lücken füllen) durch kluge Be¬ nutzung der Kräfte, durch ein geschlossenes Ensemble oft so zu ver¬ decken, daß man die Mangel viel schwacher, manchmal gar nicht bemerkt. Dieses Verdienst muß man dem Oberregisseur, Herrn Marr, selbst als sein Gegner zugestehen. Herr Marr, den Scharfsinn, Weltkennt¬ niß und Bühnenerfahrung zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten deutscher Bühne machen, ist eine jener cholerischen Naturen, die, was sie einmal ergreifen, mit Energie festhalten, ihre Entschlüsse im In¬ nern so lange verkochen, bis sich der entscheidende Moment findet, um sie auszuführen. Solche energische Charaktere sind an der Spitze viel wichtigerer Institute von großem Einflüsse, geschweige an der Spitze eines Theaters. Aber solche Energie hat oft eine Hinneigung zu Tyrannei und erwirbt sich jedenfalls ein Heer von Gegnern unter Allen deren Privatinteressen sie in ihrer Unbeugsamkeit verletzt. Gesellt sich hierzu noch eine gewisse Verschlossenheit, die ihre Endgedanken immer verhüllt hält, so werden die Gegner noch gereizter und die Verdächti¬ gungen nehmen kein Ende. Wir selbst sind der Meinung, daß, wenn irgend ein Bühnenleiter dem Leipziger Theater einen kräftigen Organis¬ mus sichern kann, so ist es Herr Marr, so wie umgekehrt er ganz der Mann wäre, Alles was jetzt durch ihn und die Direktion mit Mühe aufgebaut wurde, allmälig zu zerbröckeln, wenn er es sich vor¬ nehmen würde. Solche Zerstörungsabsi'edlen hat ihm im Laufe des verflossenen Sommers ein Gerücht in Bezug auf die Oper zugescho¬ ben und wir erlebten einige Theaterscenen, ganz in der Weise des Parterres in Tieck's gestiefelten Kater. Die Leipziger Oper ist in einigen Hauptfachern unverzeihlich schwach; was jedoch das Ensemble und die mise vn haomo betrifft, und dafür allein kann man die Re¬ gie verantwortlich machen > so ist Mühe, Fleiß und guter Wille un¬ verkennbar, dies haben wir erst in letzterer Zeit durch die Scenirung der Haimonskinder, Stradella und der Hugenotten gesehen. Etwas Liebenswürdigkeit mehr und etwas Leidenschaftlichkeit weniger könnten allerdings Herrn Marr nicht schaden; aber wenn derlei Nebendinge und einzelne Charakterschwächen den Maaßstab zur Geltung und Beur¬ theilung eines Künstlers abgeben sollten, welcher unserer berühmten Schauspieler würde vor einem solchen Gericht bestehen? Das Excen¬ trische ist oft wesentlich mit dem Genie des Künstlers verbunden. — Traurig wäre es jedenfalls, wenn Marr's Gegner dies fortgesetzt aus¬ beuten würden, um einem Manne seinen Wirkungskreis zu verleiden, der — dies dürfen wir sagen, ohne für seine Fehler blind zu sein — Grcnzioten. I8«S. IV.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/97>, abgerufen am 10.02.2025.