Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.der Leipziger Bühne schwer, ja bei ihren Verhältnissen vielleicht un¬ Herr Wagner, den uns das Pesther Theater als ersten Helden der Leipziger Bühne schwer, ja bei ihren Verhältnissen vielleicht un¬ Herr Wagner, den uns das Pesther Theater als ersten Helden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271359"/> <p xml:id="ID_228" prev="#ID_227"> der Leipziger Bühne schwer, ja bei ihren Verhältnissen vielleicht un¬<lb/> möglich zu ersetzen sein würde. Als Schauspieler leidet Herr Marr<lb/> nicht selten an einem spröden Gedächtniß; nicht alle seine neuen<lb/> Rollen sind ihm geläufig, und wenn wir auch den Negiegeschäften,<lb/> die von klein bis groß auf ihm lasten, vieles zuschreiben müssen, so<lb/> bleibt doch die Thatsache immer dieselbe und es ergibt sich daraus in<lb/> manchen Rollen ein gewisses Dehnen und nüanciren, das seine Dar¬<lb/> stellung schwächt. Wo aber Marr Herr des Materials ist, da wird<lb/> nie der Geist darin fehlen. Wir haben dies in den entgegengesetz¬<lb/> testen Fächern beobachtet z. B. als Oberförster und als Mephisto,<lb/> zwei Rollen, für welche die deutsche Bühne schwerlich einen bessern<lb/> Darsteller in einer und derselben Person aufzuweisen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_229" next="#ID_230"> Herr Wagner, den uns das Pesther Theater als ersten Helden<lb/> und Liebhaber abgetreten hat, ist ein junger Schauspieler, bei dem um<lb/> seines großen Fleißes, seines schönen Ernstes!, seines unermüdlichen<lb/> Eifers willen uns der Tadel sehr schwer fällt. Aber wir müßten der<lb/> Wahrheit und unserer Ueberzeugung untreu werden, wenn wir in die<lb/> übertriebene Lobeserhebung und allzugroße Nachsicht einstimmen wür¬<lb/> den, welche ein Theil der Leipziger Kritik aus Liebe für das Institut<lb/> ihm angedeihen läßt. Herr Wagner ist wie Jemand, der schöne Verse<lb/> macht, aber nicht den allereinfachsten Brief zu schreiben versteht; Herr<lb/> Wagner ist in die Schauspielkunst beim Dach hineingestiegen, und<lb/> schreitet stattlich in den großen Sälen umher, aber er weiß nicht, wie<lb/> man die Treppe hinaufgeht; er hat seine Studien beim I. T. U. be¬<lb/> gonnen, aber das A. B. E. hat er nicht gelernt, er weiß vortrefflich<lb/> zu declamiren, aber wie man ganz einfach guten Morgen sagt, das<lb/> weiß er nicht. Herr Wagner ist ein junger Mann, eine stattliche edle<lb/> Figur, mit einem schön geschnittenen Kopf, mit einem wohltönenden<lb/> kräftigen Organ, mit einem schönen Pathos und meist richtiger Declama-<lb/> tion, aber Herr Wagner ist zugleich wie eine jener Figuren, die durch<lb/> eine Maschinerie bewegt werden: wie sein Schlagwort kömmt, da<lb/> declamirt er, agirt er voll Blut und Gluth, aber wie sein letzter Ton<lb/> verklungen, wie die Feder abgelaufen, da steht er da wie eine Pagode,<lb/> theilnahmslos, geistlos, glotzend, es ist, als wäre plötzlich die Seele<lb/> aus seinem Körper hinausgeflogen, er weiß nicht, was er mit den<lb/> Händen, mit dem Munde, mit den Augen machen soll. Es liegt etwas<lb/> Dämonisches in diesem Dualismus von schönem Leben und blöder<lb/> Erstarrung. Nie sind mir jene unheimlichen galvanischen Figuren der<lb/> Hofmannischen Kreisleriana lebhafter vor die Phantasie gekommen,<lb/> als wenn ich diesen Schauspieler auf der Bühne sehe. Er ist wie<lb/> jener Goten, jene künstliche Menschengestalt, die sich plötzlich belebt,<lb/> wenn man ihr einen Edelstein, auf dem der heilige Name Gottes ein-<lb/> gegraben ist, in den Mund legt, die aber eben so schnell erstarrt, so¬<lb/> bald man den Stein wieder herauszieht. Das Schlagwort seines Mit-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
der Leipziger Bühne schwer, ja bei ihren Verhältnissen vielleicht un¬
möglich zu ersetzen sein würde. Als Schauspieler leidet Herr Marr
nicht selten an einem spröden Gedächtniß; nicht alle seine neuen
Rollen sind ihm geläufig, und wenn wir auch den Negiegeschäften,
die von klein bis groß auf ihm lasten, vieles zuschreiben müssen, so
bleibt doch die Thatsache immer dieselbe und es ergibt sich daraus in
manchen Rollen ein gewisses Dehnen und nüanciren, das seine Dar¬
stellung schwächt. Wo aber Marr Herr des Materials ist, da wird
nie der Geist darin fehlen. Wir haben dies in den entgegengesetz¬
testen Fächern beobachtet z. B. als Oberförster und als Mephisto,
zwei Rollen, für welche die deutsche Bühne schwerlich einen bessern
Darsteller in einer und derselben Person aufzuweisen hat.
Herr Wagner, den uns das Pesther Theater als ersten Helden
und Liebhaber abgetreten hat, ist ein junger Schauspieler, bei dem um
seines großen Fleißes, seines schönen Ernstes!, seines unermüdlichen
Eifers willen uns der Tadel sehr schwer fällt. Aber wir müßten der
Wahrheit und unserer Ueberzeugung untreu werden, wenn wir in die
übertriebene Lobeserhebung und allzugroße Nachsicht einstimmen wür¬
den, welche ein Theil der Leipziger Kritik aus Liebe für das Institut
ihm angedeihen läßt. Herr Wagner ist wie Jemand, der schöne Verse
macht, aber nicht den allereinfachsten Brief zu schreiben versteht; Herr
Wagner ist in die Schauspielkunst beim Dach hineingestiegen, und
schreitet stattlich in den großen Sälen umher, aber er weiß nicht, wie
man die Treppe hinaufgeht; er hat seine Studien beim I. T. U. be¬
gonnen, aber das A. B. E. hat er nicht gelernt, er weiß vortrefflich
zu declamiren, aber wie man ganz einfach guten Morgen sagt, das
weiß er nicht. Herr Wagner ist ein junger Mann, eine stattliche edle
Figur, mit einem schön geschnittenen Kopf, mit einem wohltönenden
kräftigen Organ, mit einem schönen Pathos und meist richtiger Declama-
tion, aber Herr Wagner ist zugleich wie eine jener Figuren, die durch
eine Maschinerie bewegt werden: wie sein Schlagwort kömmt, da
declamirt er, agirt er voll Blut und Gluth, aber wie sein letzter Ton
verklungen, wie die Feder abgelaufen, da steht er da wie eine Pagode,
theilnahmslos, geistlos, glotzend, es ist, als wäre plötzlich die Seele
aus seinem Körper hinausgeflogen, er weiß nicht, was er mit den
Händen, mit dem Munde, mit den Augen machen soll. Es liegt etwas
Dämonisches in diesem Dualismus von schönem Leben und blöder
Erstarrung. Nie sind mir jene unheimlichen galvanischen Figuren der
Hofmannischen Kreisleriana lebhafter vor die Phantasie gekommen,
als wenn ich diesen Schauspieler auf der Bühne sehe. Er ist wie
jener Goten, jene künstliche Menschengestalt, die sich plötzlich belebt,
wenn man ihr einen Edelstein, auf dem der heilige Name Gottes ein-
gegraben ist, in den Mund legt, die aber eben so schnell erstarrt, so¬
bald man den Stein wieder herauszieht. Das Schlagwort seines Mit-
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