Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.-hat, fällt als ein Keim des Einen in diese Herzenstiefen. Er selbst -hat, fällt als ein Keim des Einen in diese Herzenstiefen. Er selbst <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0535" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271796"/> <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434" next="#ID_1436"> -hat, fällt als ein Keim des Einen in diese Herzenstiefen. Er selbst<lb/> hütet sich zu ernähren, zu warnen oder Moral zu sprechen - er giebt<lb/> vielmehr den Außenvingcn Leben und menschliche Gestalt, dann läßt<lb/> er sie reden. Unter seiner Zauberhand verwandeln sich Sonne, Mond<lb/> und Sterne, Blumen und Kräuter, Bäume und Quellen in eben so<lb/> viele menschliche Wesen, und Alles auf die sinnreichste, natürlichste<lb/> Weise; alle haben sie ihre Sorgen und Arbeiten, ihre Wünsche und<lb/> Freuden, wie das gute Landvolk, zu dem sie reden. Wer in Deutsch¬<lb/> land kennt nicht das liebliche Gedicht vom „Haferbrei"? Es wäre<lb/> kaum möglich, den Reim des Originals in einer Uebersetzung zu er¬<lb/> reichen; wir begnügen uns daher, durch einige Andeutungen von der<lb/> Komposition deS Liedes einen Begriff zu geben. Die Großmutter<lb/> ruft die Kinder zum Frühstück, und während sie von Zeit zu Zeit die<lb/> Kleinen ermahnt, sich nicht das Mäulchen zu verbrennen, sich nicht<lb/> die Aermel zu beschmuzen u. s. w. — was die anmuthigsten Refrains<lb/> und in einzelnen feinen Zügen ein idyllisches Gemälde giebt, erzählt<lb/> sie gleichsam in purer Geschwätzigkeit die Schicksale der Haserähre.<lb/> Da ist das Haferkorn erst ein armer Säugling, der unter der Erde,<lb/> wie ein Kind an der Mutterbrust, liegt und saugt; endlich steckt es<lb/> das Köpfchen aus den Windeln und besieht sich zum ersten Mal die<lb/> Welt, die ihm gar gut gefällt. Der liebe Gott schickt ihm einen<lb/> Engel und sagt- Bring' ihm ein Gläschen Thau und einen guten<lb/> Morgen von mir. Dann kommt die Frau Sonne über die Berge,<lb/> kämmt ihr goldenes Haar, geht, Wolken strickend, über den Himmel,<lb/> und lächelt dem kleinen Haferkind zu, wie eine gute Mutter; nun<lb/> will eS nie mehr in seine Wiege unter die Erde, nein, es will drau¬<lb/> ßen bleiben. Da bricht der Winter herein und böses Gewölk. Das<lb/> arme Kind friert und zittert; es fragt, ob die Frau am Himmel ge¬<lb/> storben sei oder sich vor der Kälte fürchte; es weint, wie eine arme<lb/> Waise in der Fremde. Aber der Mai kommt und Alles ist wieder<lb/> gut. Mein Haferkind wächst; wie ein hübsches Mädchen, so schlank<lb/> wiegt es sich auf seinem Stängel; die Engel machen ihm über Nacht<lb/> die schönsten Kleider aus grünen Blättern und seidenen Fäden; die<lb/> Vierteln raunen ihm schöne Geschichten an's Ohr und Abends um<lb/> neun kommt der Johanniskäfer mit seiner Laterne und wünscht ihm<lb/> gute Nacht. So lebt es lustig und wohlgemuth, bis es das Dasein<lb/> satt hat, denn die Gerste ist fort, eben so Kom und Weizen; eS</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0535]
-hat, fällt als ein Keim des Einen in diese Herzenstiefen. Er selbst
hütet sich zu ernähren, zu warnen oder Moral zu sprechen - er giebt
vielmehr den Außenvingcn Leben und menschliche Gestalt, dann läßt
er sie reden. Unter seiner Zauberhand verwandeln sich Sonne, Mond
und Sterne, Blumen und Kräuter, Bäume und Quellen in eben so
viele menschliche Wesen, und Alles auf die sinnreichste, natürlichste
Weise; alle haben sie ihre Sorgen und Arbeiten, ihre Wünsche und
Freuden, wie das gute Landvolk, zu dem sie reden. Wer in Deutsch¬
land kennt nicht das liebliche Gedicht vom „Haferbrei"? Es wäre
kaum möglich, den Reim des Originals in einer Uebersetzung zu er¬
reichen; wir begnügen uns daher, durch einige Andeutungen von der
Komposition deS Liedes einen Begriff zu geben. Die Großmutter
ruft die Kinder zum Frühstück, und während sie von Zeit zu Zeit die
Kleinen ermahnt, sich nicht das Mäulchen zu verbrennen, sich nicht
die Aermel zu beschmuzen u. s. w. — was die anmuthigsten Refrains
und in einzelnen feinen Zügen ein idyllisches Gemälde giebt, erzählt
sie gleichsam in purer Geschwätzigkeit die Schicksale der Haserähre.
Da ist das Haferkorn erst ein armer Säugling, der unter der Erde,
wie ein Kind an der Mutterbrust, liegt und saugt; endlich steckt es
das Köpfchen aus den Windeln und besieht sich zum ersten Mal die
Welt, die ihm gar gut gefällt. Der liebe Gott schickt ihm einen
Engel und sagt- Bring' ihm ein Gläschen Thau und einen guten
Morgen von mir. Dann kommt die Frau Sonne über die Berge,
kämmt ihr goldenes Haar, geht, Wolken strickend, über den Himmel,
und lächelt dem kleinen Haferkind zu, wie eine gute Mutter; nun
will eS nie mehr in seine Wiege unter die Erde, nein, es will drau¬
ßen bleiben. Da bricht der Winter herein und böses Gewölk. Das
arme Kind friert und zittert; es fragt, ob die Frau am Himmel ge¬
storben sei oder sich vor der Kälte fürchte; es weint, wie eine arme
Waise in der Fremde. Aber der Mai kommt und Alles ist wieder
gut. Mein Haferkind wächst; wie ein hübsches Mädchen, so schlank
wiegt es sich auf seinem Stängel; die Engel machen ihm über Nacht
die schönsten Kleider aus grünen Blättern und seidenen Fäden; die
Vierteln raunen ihm schöne Geschichten an's Ohr und Abends um
neun kommt der Johanniskäfer mit seiner Laterne und wünscht ihm
gute Nacht. So lebt es lustig und wohlgemuth, bis es das Dasein
satt hat, denn die Gerste ist fort, eben so Kom und Weizen; eS
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