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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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wurde Neschid plötzlich vom Nuder des Staates entfernt, aber nicht
wie man allgemein glaubte, durch eine Reaction deö muselmänni-
schen Fanatismus, sondern durch die Umtriebe eines diplomatischen
Jesuitismus, durch jene nordischen Intriguen, welche in Constanti-
nopel die alte byzantinische Zeit und ihre griechisch-christliche Moral
zu erneuen streben. Jetzt, wo Reschid Pascha von seinem pariser
Gesandschaftsposten nach Stambul zurückberufen ist, um wieder an
das Steuerruder des Staats zu treten, wenden sich mit Recht alle
Blicke auf ihn und erwarten eine neue Wendung der Dinge. Im
Orient ist eS nichts weniger als lächerlich, wenn man Alles von
einer Persönlichkeit erwartet; dort, wo keine fertige Staatsmaschine
in einem hergebrachten Systeme fortarbeitet, kann eine starke Indivi¬
dualität, im Guten wie im Bösen, despotisch eingreifen, dort sino
noch immer die Saladine und die Harun-al-Raschid's möglich.
Reschid aber ist, abgesehen von seinem angeborenen Talent, ein Mann
von Erziehung, was unter den hohen türkischen Staatsdienern sich
nicht von selbst versteht und daher besonders erwähnt werden muß.
Im Lande der Günstlinge und Tyrannen sieht man die radicalste
Gleichheit mit dem absolutesten Despotismus verbunden. Noch jetzt
herrscht die Tradition, daß, wer immer den Blick des Padischah
auf sich gezogen, dadurch allein schon zu Allem befähigt sei; Sach¬
kenntniß und das Bewußtsein seiner Pflichten sind die letzten Ei¬
genschaften, die man von dem Bewerber um ein Amt fordert. Der
Sclave oder Lastträger, der Gondelier oder Marqueur im Kaffee¬
haus kann durch eine Sultans- oder Günstlingslaune mit melodra¬
matischer Plötzlichkeit in einen General oder Minister, in einen Ad¬
miral oder Statthalter verwandelt werden, und Niemand wird sich
darüber wundern; freilich kann er eben so schnell wieder abgesetzt
und ins Elend zurückgestürzt werden, wenn nicht gar die seidene
Schnur dem Roman ein Ende macht. Es ist wahr, jeder Türke
sühlt sich, als Glied des erobernden Stammes und des rechtgläu¬
bigen Volkes, gleichsam von Natur geadelt, und dies giebt ihm die
Fähigkeit, im Nu die äußere Würde anzunehmen, die zu den höch¬
sten Stellen und Aemtern gehört; aber darin besteht auch sein gan¬
zes Talent und die Folge jener plötzlichen und zufälligen Erhebungen
ist daher, daß bei den ersten Würdeträgern mit der absolutesten
Kopflosigkeit sich eine gehörige Dosis von verstockter Ruchlosigkeit


wurde Neschid plötzlich vom Nuder des Staates entfernt, aber nicht
wie man allgemein glaubte, durch eine Reaction deö muselmänni-
schen Fanatismus, sondern durch die Umtriebe eines diplomatischen
Jesuitismus, durch jene nordischen Intriguen, welche in Constanti-
nopel die alte byzantinische Zeit und ihre griechisch-christliche Moral
zu erneuen streben. Jetzt, wo Reschid Pascha von seinem pariser
Gesandschaftsposten nach Stambul zurückberufen ist, um wieder an
das Steuerruder des Staats zu treten, wenden sich mit Recht alle
Blicke auf ihn und erwarten eine neue Wendung der Dinge. Im
Orient ist eS nichts weniger als lächerlich, wenn man Alles von
einer Persönlichkeit erwartet; dort, wo keine fertige Staatsmaschine
in einem hergebrachten Systeme fortarbeitet, kann eine starke Indivi¬
dualität, im Guten wie im Bösen, despotisch eingreifen, dort sino
noch immer die Saladine und die Harun-al-Raschid's möglich.
Reschid aber ist, abgesehen von seinem angeborenen Talent, ein Mann
von Erziehung, was unter den hohen türkischen Staatsdienern sich
nicht von selbst versteht und daher besonders erwähnt werden muß.
Im Lande der Günstlinge und Tyrannen sieht man die radicalste
Gleichheit mit dem absolutesten Despotismus verbunden. Noch jetzt
herrscht die Tradition, daß, wer immer den Blick des Padischah
auf sich gezogen, dadurch allein schon zu Allem befähigt sei; Sach¬
kenntniß und das Bewußtsein seiner Pflichten sind die letzten Ei¬
genschaften, die man von dem Bewerber um ein Amt fordert. Der
Sclave oder Lastträger, der Gondelier oder Marqueur im Kaffee¬
haus kann durch eine Sultans- oder Günstlingslaune mit melodra¬
matischer Plötzlichkeit in einen General oder Minister, in einen Ad¬
miral oder Statthalter verwandelt werden, und Niemand wird sich
darüber wundern; freilich kann er eben so schnell wieder abgesetzt
und ins Elend zurückgestürzt werden, wenn nicht gar die seidene
Schnur dem Roman ein Ende macht. Es ist wahr, jeder Türke
sühlt sich, als Glied des erobernden Stammes und des rechtgläu¬
bigen Volkes, gleichsam von Natur geadelt, und dies giebt ihm die
Fähigkeit, im Nu die äußere Würde anzunehmen, die zu den höch¬
sten Stellen und Aemtern gehört; aber darin besteht auch sein gan¬
zes Talent und die Folge jener plötzlichen und zufälligen Erhebungen
ist daher, daß bei den ersten Würdeträgern mit der absolutesten
Kopflosigkeit sich eine gehörige Dosis von verstockter Ruchlosigkeit


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[0447] wurde Neschid plötzlich vom Nuder des Staates entfernt, aber nicht wie man allgemein glaubte, durch eine Reaction deö muselmänni- schen Fanatismus, sondern durch die Umtriebe eines diplomatischen Jesuitismus, durch jene nordischen Intriguen, welche in Constanti- nopel die alte byzantinische Zeit und ihre griechisch-christliche Moral zu erneuen streben. Jetzt, wo Reschid Pascha von seinem pariser Gesandschaftsposten nach Stambul zurückberufen ist, um wieder an das Steuerruder des Staats zu treten, wenden sich mit Recht alle Blicke auf ihn und erwarten eine neue Wendung der Dinge. Im Orient ist eS nichts weniger als lächerlich, wenn man Alles von einer Persönlichkeit erwartet; dort, wo keine fertige Staatsmaschine in einem hergebrachten Systeme fortarbeitet, kann eine starke Indivi¬ dualität, im Guten wie im Bösen, despotisch eingreifen, dort sino noch immer die Saladine und die Harun-al-Raschid's möglich. Reschid aber ist, abgesehen von seinem angeborenen Talent, ein Mann von Erziehung, was unter den hohen türkischen Staatsdienern sich nicht von selbst versteht und daher besonders erwähnt werden muß. Im Lande der Günstlinge und Tyrannen sieht man die radicalste Gleichheit mit dem absolutesten Despotismus verbunden. Noch jetzt herrscht die Tradition, daß, wer immer den Blick des Padischah auf sich gezogen, dadurch allein schon zu Allem befähigt sei; Sach¬ kenntniß und das Bewußtsein seiner Pflichten sind die letzten Ei¬ genschaften, die man von dem Bewerber um ein Amt fordert. Der Sclave oder Lastträger, der Gondelier oder Marqueur im Kaffee¬ haus kann durch eine Sultans- oder Günstlingslaune mit melodra¬ matischer Plötzlichkeit in einen General oder Minister, in einen Ad¬ miral oder Statthalter verwandelt werden, und Niemand wird sich darüber wundern; freilich kann er eben so schnell wieder abgesetzt und ins Elend zurückgestürzt werden, wenn nicht gar die seidene Schnur dem Roman ein Ende macht. Es ist wahr, jeder Türke sühlt sich, als Glied des erobernden Stammes und des rechtgläu¬ bigen Volkes, gleichsam von Natur geadelt, und dies giebt ihm die Fähigkeit, im Nu die äußere Würde anzunehmen, die zu den höch¬ sten Stellen und Aemtern gehört; aber darin besteht auch sein gan¬ zes Talent und die Folge jener plötzlichen und zufälligen Erhebungen ist daher, daß bei den ersten Würdeträgern mit der absolutesten Kopflosigkeit sich eine gehörige Dosis von verstockter Ruchlosigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/447>, abgerufen am 05.02.2025.