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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Stunde, dann umwölkt er sich plötzlich, weil die zahllosen Essen der
Riesenstadt zu rauchen beginnen. Eben so ist London am frühen
Morgen stiller als um Mitternacht. Die ersten Töne, die ich höre,
sind die Ausrufer mit ihren eigenthümlichen und mannigfaltigen Ka¬
denzen, die alle wie ein klägliches Gejodel klingen. Am liebsten
darunter ist mir das new mil>< sioin edle cow! (frische Milch von
der Kuh). Diese melkende Kuh ist keine bloße Phrase, sondern eine
solide Wahrheit, und sie machr mir die ganze Straße idyllisch, wenn
sie am Strick des Ausrufers von einer Hausthür zur andern wan¬
delt und überall die großen saubern Zinnkannen füllt. Vor zehn
Uhr, sagte man mir, geht kein Gentleman aus. Auch eine Regel,
an die ich mich nur heute binde, weil ich dir erzählen will, wie
es mir auf der Ueberfahrt gegangen ist.

Also zehn Minuten, nachdem ich mein voriges Briefchen be¬
schlossen hatte, stand ich auf englischem Boden, nämlich auf dem
Verdeck der Princeß Mary; wirklich trug hier alles schon ein frem¬
des Gepräge; Gesichter, Gestalten, Kleidung, Sprache und Beneh¬
men. Der massive Capitän, mit seinem souveränen Phlegma, der
wettergebräunle Mate und ein alter Matrose standen gerade beisam¬
men, als ich von dem schaukelnden Kahn, der uns aus der seichten
Rhede ins Meer hinausfuhr, an Bord kletterte, und schienen sogleich
die paar Ausländer unter den Passagieren zu unterscheiden und mit
stolzer Herablassung zu mustern. Die britischen Passagiere dagegen
schienen sich schon wie zu Hause zu fühlen und allmählig aufzu-
thauen. Besonders lebhaft war ein Gentleman in hechtgrauem Rock,
der bet jedem Wort, das er sprach, die Lippen so weit zurückzog,
daß man sein ganzes blankes Gebiß sah, bis zu den hintersten
Backzähnen; und dies gab seinen Reden einen eigenthümlichen Nach¬
druck. Er führte nämlich Jeden einzeln bei Seite, als hätte er weiß
Gott welche diplomatische Geheimnisse zu verhandeln, und fing an,
ihn auszufragen und dabei mit den Fingern der rechten Hand auf
denen der linken zu rechnen. "Wo haben Sie in Ostende übernach¬
tet? Was haben Sie zahlen müssen? Nicht wahr, schrecklich? Und
in Cöln? -- In Mainz? -- In Mannheim :c.?" So verfolgte
er die WirthShausrcchnungen seines Landsmannes, bis dieser be¬
merkte, er sei auf derselben Route nicht so weit als jener gekommen.
Dann ließ ihn der Hechtgraue stehen und wandte sich sogleich zu


Stunde, dann umwölkt er sich plötzlich, weil die zahllosen Essen der
Riesenstadt zu rauchen beginnen. Eben so ist London am frühen
Morgen stiller als um Mitternacht. Die ersten Töne, die ich höre,
sind die Ausrufer mit ihren eigenthümlichen und mannigfaltigen Ka¬
denzen, die alle wie ein klägliches Gejodel klingen. Am liebsten
darunter ist mir das new mil>< sioin edle cow! (frische Milch von
der Kuh). Diese melkende Kuh ist keine bloße Phrase, sondern eine
solide Wahrheit, und sie machr mir die ganze Straße idyllisch, wenn
sie am Strick des Ausrufers von einer Hausthür zur andern wan¬
delt und überall die großen saubern Zinnkannen füllt. Vor zehn
Uhr, sagte man mir, geht kein Gentleman aus. Auch eine Regel,
an die ich mich nur heute binde, weil ich dir erzählen will, wie
es mir auf der Ueberfahrt gegangen ist.

Also zehn Minuten, nachdem ich mein voriges Briefchen be¬
schlossen hatte, stand ich auf englischem Boden, nämlich auf dem
Verdeck der Princeß Mary; wirklich trug hier alles schon ein frem¬
des Gepräge; Gesichter, Gestalten, Kleidung, Sprache und Beneh¬
men. Der massive Capitän, mit seinem souveränen Phlegma, der
wettergebräunle Mate und ein alter Matrose standen gerade beisam¬
men, als ich von dem schaukelnden Kahn, der uns aus der seichten
Rhede ins Meer hinausfuhr, an Bord kletterte, und schienen sogleich
die paar Ausländer unter den Passagieren zu unterscheiden und mit
stolzer Herablassung zu mustern. Die britischen Passagiere dagegen
schienen sich schon wie zu Hause zu fühlen und allmählig aufzu-
thauen. Besonders lebhaft war ein Gentleman in hechtgrauem Rock,
der bet jedem Wort, das er sprach, die Lippen so weit zurückzog,
daß man sein ganzes blankes Gebiß sah, bis zu den hintersten
Backzähnen; und dies gab seinen Reden einen eigenthümlichen Nach¬
druck. Er führte nämlich Jeden einzeln bei Seite, als hätte er weiß
Gott welche diplomatische Geheimnisse zu verhandeln, und fing an,
ihn auszufragen und dabei mit den Fingern der rechten Hand auf
denen der linken zu rechnen. „Wo haben Sie in Ostende übernach¬
tet? Was haben Sie zahlen müssen? Nicht wahr, schrecklich? Und
in Cöln? — In Mainz? — In Mannheim :c.?" So verfolgte
er die WirthShausrcchnungen seines Landsmannes, bis dieser be¬
merkte, er sei auf derselben Route nicht so weit als jener gekommen.
Dann ließ ihn der Hechtgraue stehen und wandte sich sogleich zu


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[0390] Stunde, dann umwölkt er sich plötzlich, weil die zahllosen Essen der Riesenstadt zu rauchen beginnen. Eben so ist London am frühen Morgen stiller als um Mitternacht. Die ersten Töne, die ich höre, sind die Ausrufer mit ihren eigenthümlichen und mannigfaltigen Ka¬ denzen, die alle wie ein klägliches Gejodel klingen. Am liebsten darunter ist mir das new mil>< sioin edle cow! (frische Milch von der Kuh). Diese melkende Kuh ist keine bloße Phrase, sondern eine solide Wahrheit, und sie machr mir die ganze Straße idyllisch, wenn sie am Strick des Ausrufers von einer Hausthür zur andern wan¬ delt und überall die großen saubern Zinnkannen füllt. Vor zehn Uhr, sagte man mir, geht kein Gentleman aus. Auch eine Regel, an die ich mich nur heute binde, weil ich dir erzählen will, wie es mir auf der Ueberfahrt gegangen ist. Also zehn Minuten, nachdem ich mein voriges Briefchen be¬ schlossen hatte, stand ich auf englischem Boden, nämlich auf dem Verdeck der Princeß Mary; wirklich trug hier alles schon ein frem¬ des Gepräge; Gesichter, Gestalten, Kleidung, Sprache und Beneh¬ men. Der massive Capitän, mit seinem souveränen Phlegma, der wettergebräunle Mate und ein alter Matrose standen gerade beisam¬ men, als ich von dem schaukelnden Kahn, der uns aus der seichten Rhede ins Meer hinausfuhr, an Bord kletterte, und schienen sogleich die paar Ausländer unter den Passagieren zu unterscheiden und mit stolzer Herablassung zu mustern. Die britischen Passagiere dagegen schienen sich schon wie zu Hause zu fühlen und allmählig aufzu- thauen. Besonders lebhaft war ein Gentleman in hechtgrauem Rock, der bet jedem Wort, das er sprach, die Lippen so weit zurückzog, daß man sein ganzes blankes Gebiß sah, bis zu den hintersten Backzähnen; und dies gab seinen Reden einen eigenthümlichen Nach¬ druck. Er führte nämlich Jeden einzeln bei Seite, als hätte er weiß Gott welche diplomatische Geheimnisse zu verhandeln, und fing an, ihn auszufragen und dabei mit den Fingern der rechten Hand auf denen der linken zu rechnen. „Wo haben Sie in Ostende übernach¬ tet? Was haben Sie zahlen müssen? Nicht wahr, schrecklich? Und in Cöln? — In Mainz? — In Mannheim :c.?" So verfolgte er die WirthShausrcchnungen seines Landsmannes, bis dieser be¬ merkte, er sei auf derselben Route nicht so weit als jener gekommen. Dann ließ ihn der Hechtgraue stehen und wandte sich sogleich zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/390>, abgerufen am 05.02.2025.