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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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der sie ihre Gebrechlichkeit waschen und ihre sündhaft zerrütteten
Nerven stählen.

Neben mir saßen vor dem Caffeehaus an der Dammspitze ein
paar flandrische Mädchen in sauberer Tracht, ein schwarzes Tuch,
wie eine Kapuze, über den Kopf geschlagen; sie hatten noch in spä-
ter Nacht ein Seebad genommen, -- gewiß nur zur Lust; die ro¬
then Wangen und feurigen Augen sprühten von Gesundheit, die
feuchten Locken athmeten frischen Seeduft aus, und wenn man sie
unter einander unschuldig kichern und wispern horte, konnte man sie
ohne große Leichtgläubigkeit für Meermädchen halten. Das flan¬
drische Küstenvolk contrastirt überhaupt gewaltig gegen die stamm¬
verwandten deutschen Binnenländer, die hierher kommen und nichts
weniger als deutsche Flotte spielen. Im Wirthshause kam ich in
eine Gesellschaft deutscher Badegäste, die Politik sprachen, aber ge¬
rade so engbrüstig und krähwinklerisch, wie zu Hause in Celle oder
in Jüterbok. Wer sollte es glauben, daß diese Menschen schon wo¬
chenlang in der Meerluft leben! Hie und da ein kühnes Bonmot
auf Hengstenberg oder Ronge, oder eine versteckte Anspielung auf
den Fürsten von Neue-Kreuz. Die deutsche Geschichte, aufgelöst in
hämische Notizen und großmütterliche Berichtigungen. Und wie das
die Worte wägt, als hätte Jeder einen Censor hinter sich stehen, oder
einen Polizeispion. Das macht, sie haben die Censur und den Po-
lizeikrampf in allen Gliedern.

Adieu! Weiteres aus England.


Londoner Morgen. -- Paradoxer Patriotismus. -- Meeresstille. -- Ein exo¬
tischer Engländer. -- Seekrankheit. -- Ankunft in Dover.

London ist kein Frühaufsteher. Selbst die "kleinen Leute" früh¬
stücken erst gegen acht Uhr. Mein Thee kommt nach sieben auf den
Tisch, was bei meinen Wirthsleuten für eine gewaltige Neuerung
angesehen wird und am ersten Tage einen Kampf kostete, wie um
die Reformbill. Dies hält mich aber nicht ab, vor sechs aufzuste¬
hen, denn die Morgenstunde hat hier doppelt Gold im Munde.
Wenn ich früh das Fenster offne, ist die Luft so rein und der Him¬
mel so blau gewaschen, daß ich die englische Nebelatmosphäre für
einen Mythus halte. Dieser ländliche Himmel dauert etwa eine


der sie ihre Gebrechlichkeit waschen und ihre sündhaft zerrütteten
Nerven stählen.

Neben mir saßen vor dem Caffeehaus an der Dammspitze ein
paar flandrische Mädchen in sauberer Tracht, ein schwarzes Tuch,
wie eine Kapuze, über den Kopf geschlagen; sie hatten noch in spä-
ter Nacht ein Seebad genommen, — gewiß nur zur Lust; die ro¬
then Wangen und feurigen Augen sprühten von Gesundheit, die
feuchten Locken athmeten frischen Seeduft aus, und wenn man sie
unter einander unschuldig kichern und wispern horte, konnte man sie
ohne große Leichtgläubigkeit für Meermädchen halten. Das flan¬
drische Küstenvolk contrastirt überhaupt gewaltig gegen die stamm¬
verwandten deutschen Binnenländer, die hierher kommen und nichts
weniger als deutsche Flotte spielen. Im Wirthshause kam ich in
eine Gesellschaft deutscher Badegäste, die Politik sprachen, aber ge¬
rade so engbrüstig und krähwinklerisch, wie zu Hause in Celle oder
in Jüterbok. Wer sollte es glauben, daß diese Menschen schon wo¬
chenlang in der Meerluft leben! Hie und da ein kühnes Bonmot
auf Hengstenberg oder Ronge, oder eine versteckte Anspielung auf
den Fürsten von Neue-Kreuz. Die deutsche Geschichte, aufgelöst in
hämische Notizen und großmütterliche Berichtigungen. Und wie das
die Worte wägt, als hätte Jeder einen Censor hinter sich stehen, oder
einen Polizeispion. Das macht, sie haben die Censur und den Po-
lizeikrampf in allen Gliedern.

Adieu! Weiteres aus England.


Londoner Morgen. — Paradoxer Patriotismus. — Meeresstille. — Ein exo¬
tischer Engländer. — Seekrankheit. — Ankunft in Dover.

London ist kein Frühaufsteher. Selbst die „kleinen Leute" früh¬
stücken erst gegen acht Uhr. Mein Thee kommt nach sieben auf den
Tisch, was bei meinen Wirthsleuten für eine gewaltige Neuerung
angesehen wird und am ersten Tage einen Kampf kostete, wie um
die Reformbill. Dies hält mich aber nicht ab, vor sechs aufzuste¬
hen, denn die Morgenstunde hat hier doppelt Gold im Munde.
Wenn ich früh das Fenster offne, ist die Luft so rein und der Him¬
mel so blau gewaschen, daß ich die englische Nebelatmosphäre für
einen Mythus halte. Dieser ländliche Himmel dauert etwa eine


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[0389] der sie ihre Gebrechlichkeit waschen und ihre sündhaft zerrütteten Nerven stählen. Neben mir saßen vor dem Caffeehaus an der Dammspitze ein paar flandrische Mädchen in sauberer Tracht, ein schwarzes Tuch, wie eine Kapuze, über den Kopf geschlagen; sie hatten noch in spä- ter Nacht ein Seebad genommen, — gewiß nur zur Lust; die ro¬ then Wangen und feurigen Augen sprühten von Gesundheit, die feuchten Locken athmeten frischen Seeduft aus, und wenn man sie unter einander unschuldig kichern und wispern horte, konnte man sie ohne große Leichtgläubigkeit für Meermädchen halten. Das flan¬ drische Küstenvolk contrastirt überhaupt gewaltig gegen die stamm¬ verwandten deutschen Binnenländer, die hierher kommen und nichts weniger als deutsche Flotte spielen. Im Wirthshause kam ich in eine Gesellschaft deutscher Badegäste, die Politik sprachen, aber ge¬ rade so engbrüstig und krähwinklerisch, wie zu Hause in Celle oder in Jüterbok. Wer sollte es glauben, daß diese Menschen schon wo¬ chenlang in der Meerluft leben! Hie und da ein kühnes Bonmot auf Hengstenberg oder Ronge, oder eine versteckte Anspielung auf den Fürsten von Neue-Kreuz. Die deutsche Geschichte, aufgelöst in hämische Notizen und großmütterliche Berichtigungen. Und wie das die Worte wägt, als hätte Jeder einen Censor hinter sich stehen, oder einen Polizeispion. Das macht, sie haben die Censur und den Po- lizeikrampf in allen Gliedern. Adieu! Weiteres aus England. Londoner Morgen. — Paradoxer Patriotismus. — Meeresstille. — Ein exo¬ tischer Engländer. — Seekrankheit. — Ankunft in Dover. London ist kein Frühaufsteher. Selbst die „kleinen Leute" früh¬ stücken erst gegen acht Uhr. Mein Thee kommt nach sieben auf den Tisch, was bei meinen Wirthsleuten für eine gewaltige Neuerung angesehen wird und am ersten Tage einen Kampf kostete, wie um die Reformbill. Dies hält mich aber nicht ab, vor sechs aufzuste¬ hen, denn die Morgenstunde hat hier doppelt Gold im Munde. Wenn ich früh das Fenster offne, ist die Luft so rein und der Him¬ mel so blau gewaschen, daß ich die englische Nebelatmosphäre für einen Mythus halte. Dieser ländliche Himmel dauert etwa eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/389>, abgerufen am 05.02.2025.