Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.deutsche Minister aber, der Staatsrath, der Regierungspräsident oder deutsche Minister aber, der Staatsrath, der Regierungspräsident oder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0289" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271550"/> <p xml:id="ID_825" prev="#ID_824"> deutsche Minister aber, der Staatsrath, der Regierungspräsident oder<lb/> General, wie selten spricht er mit Leuten, die nicht seines Gleichen<lb/> oder doch seines Standes sind! Der Arzt muß den gewöhnlichen<lb/> Puls des Gesunden kennen, um den Kranken zu verstehen, sonst wird<lb/> er oft für eine Entzündung halten, was kaum eine Erhitzung ist.<lb/> Kennen unsere höhern Stande den täglichen Puls des Volkslebens?<lb/> Der geringste Legationsrath oder Gesandtschaftsattach«-, oder wer nur<lb/> überhaupt einen Zipfel von der Schleppe der Aristokratie erfaßt zu<lb/> haben glaubt, sperrt sich ja ängstlich ab und hütet sich vor jeder<lb/> geistigen Berührung mit Einem aus dem Volk, vor jedem Hauch aus<lb/> der allgemeinen freien Luft, wie vor einem Miasma. Er glaubt,<lb/> hört und sieht Nichts, als was ihm aus der abgeschlossenen Atmo¬<lb/> sphäre seines „höhern" Kreises zukommt, gegen alles Andere verstopft<lb/> er sich die Ohren, halt er sich die Augen zu, und sichert sich so<lb/> eine unglaubliche Unwissenheit. Spricht er ja einmal mit Einem,<lb/> der nicht seines Gleichen ist, über politische Dinge, so erklärt er sich<lb/> jeden Widerspruch, jeden Zweifel, jede abweichende Ansicht im Vor¬<lb/> aus als demagogische Gesinnung und stellt sich fortwährend auf den<lb/> gehcimpolizcilichen Fuß, so daß er jedes Wort und jede Wendung<lb/> gefährlich deutet. Diesen Herrn, die so viel über die entstellenden<lb/> Gerüchte und die böswillige Leichtgläubigkeit im Volk und in der<lb/> Presse reden, ihnen selbst genügt ein behutsames Naserümpfen, ein<lb/> Achselzucken eines Höhern, um öffentliche Zustände, von denen sie<lb/> keinen Begriff haben, sich bald schwarz, bald rosenroth zu malen und<lb/> darauf zu schwören, daß sie die wahre Farbe erkannt haben. Man<lb/> hat Leute gekannt, die, den schreiendsten Beweisen von der schlesischen<lb/> Noth zum Trotz, sich täglich mit der hartnäckigen Ueberzeugung zu<lb/> Bett legten, die schlestschen Weber seien wohlhabende Leute, und die<lb/> das Gegentheil sagten, seien Verschwörer. Aber die Presse? wird man<lb/> einwenden. Ja, dies ist das Allerschönste. Man glaubt selbst der<lb/> halb und ganz officiellen Presse nicht, wenn sie nur um ein Haar<lb/> anders berichtet, als man berichtet haben will. Dieselben Zeitungen,<lb/> über deren rücksichtsvolles Winden und Schmiegen in den Mittelstän¬<lb/> den geklagt wird, werden in den höhern Regionen zuweilen als Bei¬<lb/> spiele der Preßfreiheit angeführt. Die Zeitungen lügen! sagt man<lb/> oben. Unten wird man erwiedern: Das ist leider wahr, aber in<lb/> anderen Sinne, als ihr meint: sie sagen nämlich nie die ganze Wahr¬<lb/> heit. Wird man es für möglich halten,, daß selbst die Augsburger<lb/> Allgemeine Zeitung an gewissen Orten beschuldigt wurde, in der Leip¬<lb/> ziger Angelegenheit revolutionär berichtet zu haben? — O du liebe<lb/> censirte Preßfreiheit! Man dürfte wohl fragen: Da euch die Cen¬<lb/> soren, wie es scheint, Nichts nützen, warum schafft ihr sie nicht ab ? —</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0289]
deutsche Minister aber, der Staatsrath, der Regierungspräsident oder
General, wie selten spricht er mit Leuten, die nicht seines Gleichen
oder doch seines Standes sind! Der Arzt muß den gewöhnlichen
Puls des Gesunden kennen, um den Kranken zu verstehen, sonst wird
er oft für eine Entzündung halten, was kaum eine Erhitzung ist.
Kennen unsere höhern Stande den täglichen Puls des Volkslebens?
Der geringste Legationsrath oder Gesandtschaftsattach«-, oder wer nur
überhaupt einen Zipfel von der Schleppe der Aristokratie erfaßt zu
haben glaubt, sperrt sich ja ängstlich ab und hütet sich vor jeder
geistigen Berührung mit Einem aus dem Volk, vor jedem Hauch aus
der allgemeinen freien Luft, wie vor einem Miasma. Er glaubt,
hört und sieht Nichts, als was ihm aus der abgeschlossenen Atmo¬
sphäre seines „höhern" Kreises zukommt, gegen alles Andere verstopft
er sich die Ohren, halt er sich die Augen zu, und sichert sich so
eine unglaubliche Unwissenheit. Spricht er ja einmal mit Einem,
der nicht seines Gleichen ist, über politische Dinge, so erklärt er sich
jeden Widerspruch, jeden Zweifel, jede abweichende Ansicht im Vor¬
aus als demagogische Gesinnung und stellt sich fortwährend auf den
gehcimpolizcilichen Fuß, so daß er jedes Wort und jede Wendung
gefährlich deutet. Diesen Herrn, die so viel über die entstellenden
Gerüchte und die böswillige Leichtgläubigkeit im Volk und in der
Presse reden, ihnen selbst genügt ein behutsames Naserümpfen, ein
Achselzucken eines Höhern, um öffentliche Zustände, von denen sie
keinen Begriff haben, sich bald schwarz, bald rosenroth zu malen und
darauf zu schwören, daß sie die wahre Farbe erkannt haben. Man
hat Leute gekannt, die, den schreiendsten Beweisen von der schlesischen
Noth zum Trotz, sich täglich mit der hartnäckigen Ueberzeugung zu
Bett legten, die schlestschen Weber seien wohlhabende Leute, und die
das Gegentheil sagten, seien Verschwörer. Aber die Presse? wird man
einwenden. Ja, dies ist das Allerschönste. Man glaubt selbst der
halb und ganz officiellen Presse nicht, wenn sie nur um ein Haar
anders berichtet, als man berichtet haben will. Dieselben Zeitungen,
über deren rücksichtsvolles Winden und Schmiegen in den Mittelstän¬
den geklagt wird, werden in den höhern Regionen zuweilen als Bei¬
spiele der Preßfreiheit angeführt. Die Zeitungen lügen! sagt man
oben. Unten wird man erwiedern: Das ist leider wahr, aber in
anderen Sinne, als ihr meint: sie sagen nämlich nie die ganze Wahr¬
heit. Wird man es für möglich halten,, daß selbst die Augsburger
Allgemeine Zeitung an gewissen Orten beschuldigt wurde, in der Leip¬
ziger Angelegenheit revolutionär berichtet zu haben? — O du liebe
censirte Preßfreiheit! Man dürfte wohl fragen: Da euch die Cen¬
soren, wie es scheint, Nichts nützen, warum schafft ihr sie nicht ab ? —
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