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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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der verschiedenen Stände malt. Die höheren Stände haben keine
Ahnung davon, wie wenig sie das Volk kennen, und dieses hat eben
so wenig eine Ahnung davon, wie wenig es die Höhern und deren
Ansichten über sich kennt. Zum Beispiel die Leipziger Augustsccnen.
Längere Zeit nach jenen unseligen Tagen führte uns eine Reise kreuz
und quer durch Deutschland, wir sind durch vieler Herren Länder und
Städre gekommen, sprachen mit Männern aus allen Kreisen und wir
sind erschrocken über die grellen Gegensätze, die sich in der Beurthei¬
lung jenes 12. August zeigten. Während in den Mittelständen der
herbste Tadel gegen die traurigen Militärmaßregeln und mehr als iro¬
nische Aeußerungen über die Form gewisser Adressen zu hören sind,
findet man in den höchsten Ständen beinahe eine Ansicht verbreitet,
derzufolgeman das Militär nichtgcnug preisen könne, und die Bürgerschaft
hätte eigentlich barfuß und mit dem Strick um den Hals um Gnade fle¬
hen sollen. Man bemüht sich, einen planlosen, zufälligen Straßen¬
tumult mit Gewalt zur Revolution und die armen Leipziger zu ge¬
fährlichen Jacobinern (!) zu machen. Mit einer Angst, die zu bemit¬
leiden, und mit einem Unwillen, der zu belächeln ist, sieht man auf
die friedliebende Meß- und Handelsstadt hin. Dieselben Herrn, die
so geläufig von Maß, Besonnenheit, richtiger Mitte und unparteiischer
Prüfung reden, wissen selbst niemals die schlichte Wahrheit zu erken¬
nen, und wenden ihre guten Lehren nie auf sich selbst an. Wie sollte
es auch anders kommen, bei der innern Scheidewand, die das ge¬
ringste Mitglied der höhern Kaste zwischen sich und dem der untern
Stände aufbaut? In England ist die Presse ein unverschleiertcr
Spieg-el, in dessen Licht Groß und Klein, Hoch und Niedrig mit
gleicher Rücksichtslosigkeit auf offenem Markte treten. In Frankreich
und Belgien kennt man außerdem die deutsche Kastensucht und Rang-
schcidung nicht. Der Pair de France, der Deputirte, der Minister,
sie mischen sich unter die andern Classen, nicht in herablassenden Jn-
cognito, aus einer Anwandlung von Großmuth oder Laune, sondern
um zu hören und zu lernen, wie andere Menschen; der Handwerker,
der Krämer, der Gelehrte, der Offizier, sie sprechen täglich unverstellt
und ohne Rücksicht mit Beamten und Diplomaten, sei es auf der
Gasse, im Caso, im Hütel oder im Salon. Daraus bildet sich, we¬
nigstens über die Hauptprincipien, eine klare Uebereinstimmung und
eine wirkliche öffentliche Meinung. Bei uns gibt es tausend öffent¬
liche und geheime Meinungen. Wenn bei uns der Bürger oder Ge¬
lehrte mit einem Höhern spricht, so ist ihm das ein Feiertag; seine
Sprache muß dann auch den Sonntagsrock anziehen und ein Bischen
Puder oder Asche auf ihr Haupt streuen. Die deutsche Geradheit ist
so mythisch geworden, daß der gemeine Mann sogar den Diplomaten
spielen muß; anders spricht er mit dem Bureaukraten als mit seines
Gleichen, wieder anders mit dem Aristokraten oder Höfling. Der


der verschiedenen Stände malt. Die höheren Stände haben keine
Ahnung davon, wie wenig sie das Volk kennen, und dieses hat eben
so wenig eine Ahnung davon, wie wenig es die Höhern und deren
Ansichten über sich kennt. Zum Beispiel die Leipziger Augustsccnen.
Längere Zeit nach jenen unseligen Tagen führte uns eine Reise kreuz
und quer durch Deutschland, wir sind durch vieler Herren Länder und
Städre gekommen, sprachen mit Männern aus allen Kreisen und wir
sind erschrocken über die grellen Gegensätze, die sich in der Beurthei¬
lung jenes 12. August zeigten. Während in den Mittelständen der
herbste Tadel gegen die traurigen Militärmaßregeln und mehr als iro¬
nische Aeußerungen über die Form gewisser Adressen zu hören sind,
findet man in den höchsten Ständen beinahe eine Ansicht verbreitet,
derzufolgeman das Militär nichtgcnug preisen könne, und die Bürgerschaft
hätte eigentlich barfuß und mit dem Strick um den Hals um Gnade fle¬
hen sollen. Man bemüht sich, einen planlosen, zufälligen Straßen¬
tumult mit Gewalt zur Revolution und die armen Leipziger zu ge¬
fährlichen Jacobinern (!) zu machen. Mit einer Angst, die zu bemit¬
leiden, und mit einem Unwillen, der zu belächeln ist, sieht man auf
die friedliebende Meß- und Handelsstadt hin. Dieselben Herrn, die
so geläufig von Maß, Besonnenheit, richtiger Mitte und unparteiischer
Prüfung reden, wissen selbst niemals die schlichte Wahrheit zu erken¬
nen, und wenden ihre guten Lehren nie auf sich selbst an. Wie sollte
es auch anders kommen, bei der innern Scheidewand, die das ge¬
ringste Mitglied der höhern Kaste zwischen sich und dem der untern
Stände aufbaut? In England ist die Presse ein unverschleiertcr
Spieg-el, in dessen Licht Groß und Klein, Hoch und Niedrig mit
gleicher Rücksichtslosigkeit auf offenem Markte treten. In Frankreich
und Belgien kennt man außerdem die deutsche Kastensucht und Rang-
schcidung nicht. Der Pair de France, der Deputirte, der Minister,
sie mischen sich unter die andern Classen, nicht in herablassenden Jn-
cognito, aus einer Anwandlung von Großmuth oder Laune, sondern
um zu hören und zu lernen, wie andere Menschen; der Handwerker,
der Krämer, der Gelehrte, der Offizier, sie sprechen täglich unverstellt
und ohne Rücksicht mit Beamten und Diplomaten, sei es auf der
Gasse, im Caso, im Hütel oder im Salon. Daraus bildet sich, we¬
nigstens über die Hauptprincipien, eine klare Uebereinstimmung und
eine wirkliche öffentliche Meinung. Bei uns gibt es tausend öffent¬
liche und geheime Meinungen. Wenn bei uns der Bürger oder Ge¬
lehrte mit einem Höhern spricht, so ist ihm das ein Feiertag; seine
Sprache muß dann auch den Sonntagsrock anziehen und ein Bischen
Puder oder Asche auf ihr Haupt streuen. Die deutsche Geradheit ist
so mythisch geworden, daß der gemeine Mann sogar den Diplomaten
spielen muß; anders spricht er mit dem Bureaukraten als mit seines
Gleichen, wieder anders mit dem Aristokraten oder Höfling. Der


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[0288] der verschiedenen Stände malt. Die höheren Stände haben keine Ahnung davon, wie wenig sie das Volk kennen, und dieses hat eben so wenig eine Ahnung davon, wie wenig es die Höhern und deren Ansichten über sich kennt. Zum Beispiel die Leipziger Augustsccnen. Längere Zeit nach jenen unseligen Tagen führte uns eine Reise kreuz und quer durch Deutschland, wir sind durch vieler Herren Länder und Städre gekommen, sprachen mit Männern aus allen Kreisen und wir sind erschrocken über die grellen Gegensätze, die sich in der Beurthei¬ lung jenes 12. August zeigten. Während in den Mittelständen der herbste Tadel gegen die traurigen Militärmaßregeln und mehr als iro¬ nische Aeußerungen über die Form gewisser Adressen zu hören sind, findet man in den höchsten Ständen beinahe eine Ansicht verbreitet, derzufolgeman das Militär nichtgcnug preisen könne, und die Bürgerschaft hätte eigentlich barfuß und mit dem Strick um den Hals um Gnade fle¬ hen sollen. Man bemüht sich, einen planlosen, zufälligen Straßen¬ tumult mit Gewalt zur Revolution und die armen Leipziger zu ge¬ fährlichen Jacobinern (!) zu machen. Mit einer Angst, die zu bemit¬ leiden, und mit einem Unwillen, der zu belächeln ist, sieht man auf die friedliebende Meß- und Handelsstadt hin. Dieselben Herrn, die so geläufig von Maß, Besonnenheit, richtiger Mitte und unparteiischer Prüfung reden, wissen selbst niemals die schlichte Wahrheit zu erken¬ nen, und wenden ihre guten Lehren nie auf sich selbst an. Wie sollte es auch anders kommen, bei der innern Scheidewand, die das ge¬ ringste Mitglied der höhern Kaste zwischen sich und dem der untern Stände aufbaut? In England ist die Presse ein unverschleiertcr Spieg-el, in dessen Licht Groß und Klein, Hoch und Niedrig mit gleicher Rücksichtslosigkeit auf offenem Markte treten. In Frankreich und Belgien kennt man außerdem die deutsche Kastensucht und Rang- schcidung nicht. Der Pair de France, der Deputirte, der Minister, sie mischen sich unter die andern Classen, nicht in herablassenden Jn- cognito, aus einer Anwandlung von Großmuth oder Laune, sondern um zu hören und zu lernen, wie andere Menschen; der Handwerker, der Krämer, der Gelehrte, der Offizier, sie sprechen täglich unverstellt und ohne Rücksicht mit Beamten und Diplomaten, sei es auf der Gasse, im Caso, im Hütel oder im Salon. Daraus bildet sich, we¬ nigstens über die Hauptprincipien, eine klare Uebereinstimmung und eine wirkliche öffentliche Meinung. Bei uns gibt es tausend öffent¬ liche und geheime Meinungen. Wenn bei uns der Bürger oder Ge¬ lehrte mit einem Höhern spricht, so ist ihm das ein Feiertag; seine Sprache muß dann auch den Sonntagsrock anziehen und ein Bischen Puder oder Asche auf ihr Haupt streuen. Die deutsche Geradheit ist so mythisch geworden, daß der gemeine Mann sogar den Diplomaten spielen muß; anders spricht er mit dem Bureaukraten als mit seines Gleichen, wieder anders mit dem Aristokraten oder Höfling. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/288>, abgerufen am 05.02.2025.