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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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so unantastbar strenge, als hätte es Lykurg geschrieben. Jedenfalls
paßt es noch mehr für unsere Zeit, als das römische Recht, und es
ist der Aesthetik zuträglicher, denn jenes der Justiz.

Attache. Nun, mit dem ernsten, finstern Aristoteles sind wir
heutzutage auch abgefunden!

Professor (erzürnt). Wie meinen Sie das, Herr?

Attache. Herr Professor! Jede vorübergegangne Zeit ist ein
König Lear; man verhöhnt ihr Ansehn, spottet ihrer Weisheit Die
Bildung ist unterdeß fortgeschritten, macht andre Forderungen und
gebietet andere Formen. Aristoteles hatte sich seine Würde zwei
Jahrhtausende lang bewahrt, doch endlich mußte auch ihm daS Stünd¬
lein schlagen. Die Einheiten der Tragödie, die er lehrte, wurden
durch unsre Industrie überflügelt und vernichtet. Jetzt sind die Klüfte
von Zeit und Ort ausgefüllt, jetzt ist Victor Hugo so classisch, wie
der alte Aeschylos.

Fräulein. Und welche Zauberin bewirkte solches Wunder?

Attache. Sie können dieselbe mit eignen Augen sehn, wenn
es Ihnen beliebt, einen Spaziergang zum Thor hinaus zu machen;
es ist nämlich -- die Eisenbahn. Ließ man vormals den Helden
und dessen Geliebte in zwei verschiedenen Staaten Deutschlands auf¬
treten, und ließ beide, etliche Scenen später, zusammentreffen, dann
war das eine Unmöglichkeit, und also eine arge Versündigung gegen
Aristoteles. Heut aber würde es ganz natürlich zugehn, und daS
Publicum würde denken: Aha! die Liebenden sind einander auf der
Eisenbahn entgegengereist!

Direcror. Wahrlich, meine Verehrten! Sie sprechen wun-
derhübsche Dinge aus, und ich mochte Ihnen tagelang zuhören, wenn
ich nicht so tief in Sorgen steckte. Aber Sie rücken dabei immer
mehr vom Ziele ab und gelangen zu keinem gemeinsamen Beschluß.

Commerzienrath (tritt herein.) Guten Abend, guten Abend,
Herr Director! -- Fräulein von Blüthenhauch, wie geht's mit Ihren
Nerven? Das freut mich herzlich! -- Ach sieh da, unsere gefeierte
Künstlerin... ich bringe Ihnen meine Huldigung! -- Guten Abend,
Herr Legationsattachv! -- Guten Abend, meine Herren!

Hofschau spiel er in. Sie haben lange auf sich warten las¬
sen, Sie böser Mann!

Commerzienrath. Man wird wirklich zu sehr in Anspruch


so unantastbar strenge, als hätte es Lykurg geschrieben. Jedenfalls
paßt es noch mehr für unsere Zeit, als das römische Recht, und es
ist der Aesthetik zuträglicher, denn jenes der Justiz.

Attache. Nun, mit dem ernsten, finstern Aristoteles sind wir
heutzutage auch abgefunden!

Professor (erzürnt). Wie meinen Sie das, Herr?

Attache. Herr Professor! Jede vorübergegangne Zeit ist ein
König Lear; man verhöhnt ihr Ansehn, spottet ihrer Weisheit Die
Bildung ist unterdeß fortgeschritten, macht andre Forderungen und
gebietet andere Formen. Aristoteles hatte sich seine Würde zwei
Jahrhtausende lang bewahrt, doch endlich mußte auch ihm daS Stünd¬
lein schlagen. Die Einheiten der Tragödie, die er lehrte, wurden
durch unsre Industrie überflügelt und vernichtet. Jetzt sind die Klüfte
von Zeit und Ort ausgefüllt, jetzt ist Victor Hugo so classisch, wie
der alte Aeschylos.

Fräulein. Und welche Zauberin bewirkte solches Wunder?

Attache. Sie können dieselbe mit eignen Augen sehn, wenn
es Ihnen beliebt, einen Spaziergang zum Thor hinaus zu machen;
es ist nämlich — die Eisenbahn. Ließ man vormals den Helden
und dessen Geliebte in zwei verschiedenen Staaten Deutschlands auf¬
treten, und ließ beide, etliche Scenen später, zusammentreffen, dann
war das eine Unmöglichkeit, und also eine arge Versündigung gegen
Aristoteles. Heut aber würde es ganz natürlich zugehn, und daS
Publicum würde denken: Aha! die Liebenden sind einander auf der
Eisenbahn entgegengereist!

Direcror. Wahrlich, meine Verehrten! Sie sprechen wun-
derhübsche Dinge aus, und ich mochte Ihnen tagelang zuhören, wenn
ich nicht so tief in Sorgen steckte. Aber Sie rücken dabei immer
mehr vom Ziele ab und gelangen zu keinem gemeinsamen Beschluß.

Commerzienrath (tritt herein.) Guten Abend, guten Abend,
Herr Director! — Fräulein von Blüthenhauch, wie geht's mit Ihren
Nerven? Das freut mich herzlich! — Ach sieh da, unsere gefeierte
Künstlerin... ich bringe Ihnen meine Huldigung! — Guten Abend,
Herr Legationsattachv! — Guten Abend, meine Herren!

Hofschau spiel er in. Sie haben lange auf sich warten las¬
sen, Sie böser Mann!

Commerzienrath. Man wird wirklich zu sehr in Anspruch


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[0084] so unantastbar strenge, als hätte es Lykurg geschrieben. Jedenfalls paßt es noch mehr für unsere Zeit, als das römische Recht, und es ist der Aesthetik zuträglicher, denn jenes der Justiz. Attache. Nun, mit dem ernsten, finstern Aristoteles sind wir heutzutage auch abgefunden! Professor (erzürnt). Wie meinen Sie das, Herr? Attache. Herr Professor! Jede vorübergegangne Zeit ist ein König Lear; man verhöhnt ihr Ansehn, spottet ihrer Weisheit Die Bildung ist unterdeß fortgeschritten, macht andre Forderungen und gebietet andere Formen. Aristoteles hatte sich seine Würde zwei Jahrhtausende lang bewahrt, doch endlich mußte auch ihm daS Stünd¬ lein schlagen. Die Einheiten der Tragödie, die er lehrte, wurden durch unsre Industrie überflügelt und vernichtet. Jetzt sind die Klüfte von Zeit und Ort ausgefüllt, jetzt ist Victor Hugo so classisch, wie der alte Aeschylos. Fräulein. Und welche Zauberin bewirkte solches Wunder? Attache. Sie können dieselbe mit eignen Augen sehn, wenn es Ihnen beliebt, einen Spaziergang zum Thor hinaus zu machen; es ist nämlich — die Eisenbahn. Ließ man vormals den Helden und dessen Geliebte in zwei verschiedenen Staaten Deutschlands auf¬ treten, und ließ beide, etliche Scenen später, zusammentreffen, dann war das eine Unmöglichkeit, und also eine arge Versündigung gegen Aristoteles. Heut aber würde es ganz natürlich zugehn, und daS Publicum würde denken: Aha! die Liebenden sind einander auf der Eisenbahn entgegengereist! Direcror. Wahrlich, meine Verehrten! Sie sprechen wun- derhübsche Dinge aus, und ich mochte Ihnen tagelang zuhören, wenn ich nicht so tief in Sorgen steckte. Aber Sie rücken dabei immer mehr vom Ziele ab und gelangen zu keinem gemeinsamen Beschluß. Commerzienrath (tritt herein.) Guten Abend, guten Abend, Herr Director! — Fräulein von Blüthenhauch, wie geht's mit Ihren Nerven? Das freut mich herzlich! — Ach sieh da, unsere gefeierte Künstlerin... ich bringe Ihnen meine Huldigung! — Guten Abend, Herr Legationsattachv! — Guten Abend, meine Herren! Hofschau spiel er in. Sie haben lange auf sich warten las¬ sen, Sie böser Mann! Commerzienrath. Man wird wirklich zu sehr in Anspruch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/84>, abgerufen am 22.07.2024.