Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

moralischen Interessen zu Statten kommen, Religion, Nationalsprache
und Aemterbefähigung. Allein die materielle Stimmung begnügt sich
jetzt nicht mehr mit derlei geistigen Siegen, deren sichtbare Entwick¬
lungen zu spät an's Tageslicht kommen; diese werden wohl von der
politischen Partei jubelnd begrüßt und als Trophäen ausgehängt, die
Masse deS Volkes aber verlangt nach andern Reformen, die seine
allerdings nicht beneidenswerthe leibliche Lage verbessern; sie will nicht
blos die Freiheit zu reden, zu glauben und zu heirathen, sondern auch
die zu essen und zu behalten, was es sich verdient. Man ist
der magyarischen Opposition an beiden Tafeln das Geständnis? schul¬
dig, daß sie den besten Willen hatte, die Stcuerfrage auf dem letzten
Landtage zur Entscheidung zu bringen, und ihr kann man es unter
keinen'jUmständen zumVorwurs machen, wenn diese für das Heil des
Landes und seine ganze Zukunft so wichtige Angelegenheit ein so
kleinliches Ende genommen. Dagegen trifft die Regierung wenigstens
der Vorwurf, sich in dieser großen Frage gänzlich passiv verhalten zu
haben, während es ihr doch sonst nicht an Mitteln gebricht, wo es
gilt, ihren Einfluß geltend zu machen. Ueberhaupt fangen viele
Patrioten über die Theilnamölostgkeit der Staatsregierung zu klagen
an; sie wollten sich gern derselben anschließen und ihre Mitwirkung
zusagen, wenn man sich Oben nur entschließen wollte, ein Pro¬
gramm zu machen und aus den Bestrebungen der Parteien ein fertiges
System zusammenzustellen, welches den Fortschritt repräsentiren würde,
wenn auch ohne die Eraltirten zu befriedigen. Eine solche liberale Par¬
tei, durch den Einfluß der Negierung verstärkt und durch die staats-
wirthschaftlichen Erfahrungen derselben unterstützt, würde das Land
in zehn Jahren weiter bringen, als dK'S jetzt, wo hundert Reibungen
die Bewegung hemmen oder irreleiten und die Negierung blos die Rolle
des aufmerksamen Zuschauers gewählt hat, in langen Jahren möglich ist.
Dazu wäre freilich nothwendig, daß die Negierung sich der Ansicht
entschlüge, als würde sie sich durch Jdentificirung mit einer noch so
ehrenwerthen Partei der Freiheit ihrer Stellung begeben und zum
bloßen Werkzeug der Majorität herabsinken. Daß man eine solche
Ansicht der Verhältnisse hegen kann, beweist, wie wenig man
geneigt ist, die echt constitutionelle Bahn zu beschreiben. Doch
Ungarn hat keine Minister, wie sie andere Verfassungsstaaten besi¬
tzen, und von Verantwortlichkeit ist nun vollends keine Rede. Bei


moralischen Interessen zu Statten kommen, Religion, Nationalsprache
und Aemterbefähigung. Allein die materielle Stimmung begnügt sich
jetzt nicht mehr mit derlei geistigen Siegen, deren sichtbare Entwick¬
lungen zu spät an's Tageslicht kommen; diese werden wohl von der
politischen Partei jubelnd begrüßt und als Trophäen ausgehängt, die
Masse deS Volkes aber verlangt nach andern Reformen, die seine
allerdings nicht beneidenswerthe leibliche Lage verbessern; sie will nicht
blos die Freiheit zu reden, zu glauben und zu heirathen, sondern auch
die zu essen und zu behalten, was es sich verdient. Man ist
der magyarischen Opposition an beiden Tafeln das Geständnis? schul¬
dig, daß sie den besten Willen hatte, die Stcuerfrage auf dem letzten
Landtage zur Entscheidung zu bringen, und ihr kann man es unter
keinen'jUmständen zumVorwurs machen, wenn diese für das Heil des
Landes und seine ganze Zukunft so wichtige Angelegenheit ein so
kleinliches Ende genommen. Dagegen trifft die Regierung wenigstens
der Vorwurf, sich in dieser großen Frage gänzlich passiv verhalten zu
haben, während es ihr doch sonst nicht an Mitteln gebricht, wo es
gilt, ihren Einfluß geltend zu machen. Ueberhaupt fangen viele
Patrioten über die Theilnamölostgkeit der Staatsregierung zu klagen
an; sie wollten sich gern derselben anschließen und ihre Mitwirkung
zusagen, wenn man sich Oben nur entschließen wollte, ein Pro¬
gramm zu machen und aus den Bestrebungen der Parteien ein fertiges
System zusammenzustellen, welches den Fortschritt repräsentiren würde,
wenn auch ohne die Eraltirten zu befriedigen. Eine solche liberale Par¬
tei, durch den Einfluß der Negierung verstärkt und durch die staats-
wirthschaftlichen Erfahrungen derselben unterstützt, würde das Land
in zehn Jahren weiter bringen, als dK'S jetzt, wo hundert Reibungen
die Bewegung hemmen oder irreleiten und die Negierung blos die Rolle
des aufmerksamen Zuschauers gewählt hat, in langen Jahren möglich ist.
Dazu wäre freilich nothwendig, daß die Negierung sich der Ansicht
entschlüge, als würde sie sich durch Jdentificirung mit einer noch so
ehrenwerthen Partei der Freiheit ihrer Stellung begeben und zum
bloßen Werkzeug der Majorität herabsinken. Daß man eine solche
Ansicht der Verhältnisse hegen kann, beweist, wie wenig man
geneigt ist, die echt constitutionelle Bahn zu beschreiben. Doch
Ungarn hat keine Minister, wie sie andere Verfassungsstaaten besi¬
tzen, und von Verantwortlichkeit ist nun vollends keine Rede. Bei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0600" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/270015"/>
            <p xml:id="ID_1713" prev="#ID_1712" next="#ID_1714"> moralischen Interessen zu Statten kommen, Religion, Nationalsprache<lb/>
und Aemterbefähigung. Allein die materielle Stimmung begnügt sich<lb/>
jetzt nicht mehr mit derlei geistigen Siegen, deren sichtbare Entwick¬<lb/>
lungen zu spät an's Tageslicht kommen; diese werden wohl von der<lb/>
politischen Partei jubelnd begrüßt und als Trophäen ausgehängt, die<lb/>
Masse deS Volkes aber verlangt nach andern Reformen, die seine<lb/>
allerdings nicht beneidenswerthe leibliche Lage verbessern; sie will nicht<lb/>
blos die Freiheit zu reden, zu glauben und zu heirathen, sondern auch<lb/>
die zu essen und zu behalten, was es sich verdient.  Man ist<lb/>
der magyarischen Opposition an beiden Tafeln das Geständnis? schul¬<lb/>
dig, daß sie den besten Willen hatte, die Stcuerfrage auf dem letzten<lb/>
Landtage zur Entscheidung zu bringen, und ihr kann man es unter<lb/>
keinen'jUmständen zumVorwurs machen, wenn diese für das Heil des<lb/>
Landes und seine ganze Zukunft so wichtige Angelegenheit ein so<lb/>
kleinliches Ende genommen. Dagegen trifft die Regierung wenigstens<lb/>
der Vorwurf, sich in dieser großen Frage gänzlich passiv verhalten zu<lb/>
haben, während es ihr doch sonst nicht an Mitteln gebricht, wo es<lb/>
gilt, ihren Einfluß geltend zu machen.  Ueberhaupt fangen viele<lb/>
Patrioten über die Theilnamölostgkeit der Staatsregierung zu klagen<lb/>
an; sie wollten sich gern derselben anschließen und ihre Mitwirkung<lb/>
zusagen, wenn man sich Oben nur entschließen wollte, ein Pro¬<lb/>
gramm zu machen und aus den Bestrebungen der Parteien ein fertiges<lb/>
System zusammenzustellen, welches den Fortschritt repräsentiren würde,<lb/>
wenn auch ohne die Eraltirten zu befriedigen. Eine solche liberale Par¬<lb/>
tei, durch den Einfluß der Negierung verstärkt und durch die staats-<lb/>
wirthschaftlichen Erfahrungen derselben unterstützt, würde das Land<lb/>
in zehn Jahren weiter bringen, als dK'S jetzt, wo hundert Reibungen<lb/>
die Bewegung hemmen oder irreleiten und die Negierung blos die Rolle<lb/>
des aufmerksamen Zuschauers gewählt hat, in langen Jahren möglich ist.<lb/>
Dazu wäre freilich nothwendig, daß die Negierung sich der Ansicht<lb/>
entschlüge, als würde sie sich durch Jdentificirung mit einer noch so<lb/>
ehrenwerthen Partei der Freiheit ihrer Stellung begeben und zum<lb/>
bloßen Werkzeug der Majorität herabsinken. Daß man eine solche<lb/>
Ansicht der Verhältnisse hegen kann, beweist, wie wenig man<lb/>
geneigt ist,  die echt constitutionelle Bahn zu beschreiben. Doch<lb/>
Ungarn hat keine Minister, wie sie andere Verfassungsstaaten besi¬<lb/>
tzen, und von Verantwortlichkeit ist nun vollends keine Rede. Bei</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0600] moralischen Interessen zu Statten kommen, Religion, Nationalsprache und Aemterbefähigung. Allein die materielle Stimmung begnügt sich jetzt nicht mehr mit derlei geistigen Siegen, deren sichtbare Entwick¬ lungen zu spät an's Tageslicht kommen; diese werden wohl von der politischen Partei jubelnd begrüßt und als Trophäen ausgehängt, die Masse deS Volkes aber verlangt nach andern Reformen, die seine allerdings nicht beneidenswerthe leibliche Lage verbessern; sie will nicht blos die Freiheit zu reden, zu glauben und zu heirathen, sondern auch die zu essen und zu behalten, was es sich verdient. Man ist der magyarischen Opposition an beiden Tafeln das Geständnis? schul¬ dig, daß sie den besten Willen hatte, die Stcuerfrage auf dem letzten Landtage zur Entscheidung zu bringen, und ihr kann man es unter keinen'jUmständen zumVorwurs machen, wenn diese für das Heil des Landes und seine ganze Zukunft so wichtige Angelegenheit ein so kleinliches Ende genommen. Dagegen trifft die Regierung wenigstens der Vorwurf, sich in dieser großen Frage gänzlich passiv verhalten zu haben, während es ihr doch sonst nicht an Mitteln gebricht, wo es gilt, ihren Einfluß geltend zu machen. Ueberhaupt fangen viele Patrioten über die Theilnamölostgkeit der Staatsregierung zu klagen an; sie wollten sich gern derselben anschließen und ihre Mitwirkung zusagen, wenn man sich Oben nur entschließen wollte, ein Pro¬ gramm zu machen und aus den Bestrebungen der Parteien ein fertiges System zusammenzustellen, welches den Fortschritt repräsentiren würde, wenn auch ohne die Eraltirten zu befriedigen. Eine solche liberale Par¬ tei, durch den Einfluß der Negierung verstärkt und durch die staats- wirthschaftlichen Erfahrungen derselben unterstützt, würde das Land in zehn Jahren weiter bringen, als dK'S jetzt, wo hundert Reibungen die Bewegung hemmen oder irreleiten und die Negierung blos die Rolle des aufmerksamen Zuschauers gewählt hat, in langen Jahren möglich ist. Dazu wäre freilich nothwendig, daß die Negierung sich der Ansicht entschlüge, als würde sie sich durch Jdentificirung mit einer noch so ehrenwerthen Partei der Freiheit ihrer Stellung begeben und zum bloßen Werkzeug der Majorität herabsinken. Daß man eine solche Ansicht der Verhältnisse hegen kann, beweist, wie wenig man geneigt ist, die echt constitutionelle Bahn zu beschreiben. Doch Ungarn hat keine Minister, wie sie andere Verfassungsstaaten besi¬ tzen, und von Verantwortlichkeit ist nun vollends keine Rede. Bei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/600
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/600>, abgerufen am 22.07.2024.