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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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pfänglich, als für die seiner Freunde. -- Denken Sie sich einen stäm¬
migen, wohlgenährten Landmann mit langem, schlichtem Haare und
breitem Gesichte, dessen normal-Ausdruck die Milde ist, geben Sie
dieser Gestalt eine grobe, unschöne, fast zu ärmliche Dörflertracht,
malen Sie sich ein kaum wohnliches Zimmer in einem alten wüsten,
schloßähnlichen Pfarrgebäude mit allen Emblemen der Gelehrsamkeit
aus, mit ungeheueren Folianten, staubigen Repositorien, Bücherhaufen
unter dem Ofen, dem ärmlichen Lager, auf dem Sopha -- versetzen
sie diesen Mann in diese Umgebung, so haben Sie Theiner in sei¬
nem Studirzimmer. Leiten Sie ein Gespräch mit ihm ein, so ist er
anfangs bei den gewöhnlichen conventionellen Redensarten schüchtern
und unbeholfen, aber hat er Sie als Geistesverwandten erkannt
und kommt er auf die Hierarchie, auf Rom und den Clerus zu
sprechen, so steht ein ganz anderer Mann vor Ihnen, ein Mann, der
in beredter Zunge den Schatz seines Wissens vor Ihnen ausbreitet,
der nicht müde wird, stundenlang zu pcroriren und mit jeder Minute
die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Hörers reizt. -- Was ick)
Ihnen vor nicht langer Zeit prophezeiht habe, ist eingetroffen: Hr. v.
Holtei tritt, nachdem er unsere Theaterzustände gründlich confundirt
hat, von seinem Dirigenten-Posten ab. Wohl ihm und wohl auch
uns, Holtei lebt nur, wenn er wandert; er ist nicht er selbst, wenn
etwas, was man im gewöhnlichen Leben Geschäft nennt, ihn um einen
Ort fesselt. Wahrscheinlich treten die Hrn. Kiesling und I>. Leop.
Schweißer an seine Stelle.


x.
III.
Aus Berlin.

Politische Stimmung im Februar. -- Bettina und ihr Buch der Armuth. --
Die Gräfin Hahn und Bettina als Aristokraten. -- Gesellschaft in Berlin und
die deutschen Salons. -- Das Haus des Grafen Westmoreland. -- Steffens
und die Aristokratie der Geistreichen. -- Der Blaubart und die Waise von
Lucca. -- Die vornehmen Tartüsses des Liberalismus. -- Jesuitenliteratur;
Rutenberg. -- Für Herrn P. Ackermann. --

Den verflossenen Monat wird man einen sehr merkwürdigen und
eigenthümlichen in dem berlinischen Leben nennen müssen. Das Con-
stitutions-Gerücht hatte sich so allgemein und lebhaft verbreitet, daß es
an manchen Tagen schien, als hatte Berlin das Ohr an das Schlüs¬
selloch des königlichen Kabinets gelegt. Eine so athemlose Stille
war über die Stadt gebreitet. Die seltsame Spannung, die sich
der ganzen Bevölkerung bemächtigt, war auf allen Gesichtern, in
allen Neben, in allen Gesellschaften, an allen öffentlichen Orten, auf
allen Straßen möchte man sagen, ausgedrückt. Es war auch fast


pfänglich, als für die seiner Freunde. — Denken Sie sich einen stäm¬
migen, wohlgenährten Landmann mit langem, schlichtem Haare und
breitem Gesichte, dessen normal-Ausdruck die Milde ist, geben Sie
dieser Gestalt eine grobe, unschöne, fast zu ärmliche Dörflertracht,
malen Sie sich ein kaum wohnliches Zimmer in einem alten wüsten,
schloßähnlichen Pfarrgebäude mit allen Emblemen der Gelehrsamkeit
aus, mit ungeheueren Folianten, staubigen Repositorien, Bücherhaufen
unter dem Ofen, dem ärmlichen Lager, auf dem Sopha — versetzen
sie diesen Mann in diese Umgebung, so haben Sie Theiner in sei¬
nem Studirzimmer. Leiten Sie ein Gespräch mit ihm ein, so ist er
anfangs bei den gewöhnlichen conventionellen Redensarten schüchtern
und unbeholfen, aber hat er Sie als Geistesverwandten erkannt
und kommt er auf die Hierarchie, auf Rom und den Clerus zu
sprechen, so steht ein ganz anderer Mann vor Ihnen, ein Mann, der
in beredter Zunge den Schatz seines Wissens vor Ihnen ausbreitet,
der nicht müde wird, stundenlang zu pcroriren und mit jeder Minute
die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Hörers reizt. — Was ick)
Ihnen vor nicht langer Zeit prophezeiht habe, ist eingetroffen: Hr. v.
Holtei tritt, nachdem er unsere Theaterzustände gründlich confundirt
hat, von seinem Dirigenten-Posten ab. Wohl ihm und wohl auch
uns, Holtei lebt nur, wenn er wandert; er ist nicht er selbst, wenn
etwas, was man im gewöhnlichen Leben Geschäft nennt, ihn um einen
Ort fesselt. Wahrscheinlich treten die Hrn. Kiesling und I>. Leop.
Schweißer an seine Stelle.


x.
III.
Aus Berlin.

Politische Stimmung im Februar. — Bettina und ihr Buch der Armuth. —
Die Gräfin Hahn und Bettina als Aristokraten. — Gesellschaft in Berlin und
die deutschen Salons. — Das Haus des Grafen Westmoreland. — Steffens
und die Aristokratie der Geistreichen. — Der Blaubart und die Waise von
Lucca. — Die vornehmen Tartüsses des Liberalismus. — Jesuitenliteratur;
Rutenberg. — Für Herrn P. Ackermann. —

Den verflossenen Monat wird man einen sehr merkwürdigen und
eigenthümlichen in dem berlinischen Leben nennen müssen. Das Con-
stitutions-Gerücht hatte sich so allgemein und lebhaft verbreitet, daß es
an manchen Tagen schien, als hatte Berlin das Ohr an das Schlüs¬
selloch des königlichen Kabinets gelegt. Eine so athemlose Stille
war über die Stadt gebreitet. Die seltsame Spannung, die sich
der ganzen Bevölkerung bemächtigt, war auf allen Gesichtern, in
allen Neben, in allen Gesellschaften, an allen öffentlichen Orten, auf
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[0580] pfänglich, als für die seiner Freunde. — Denken Sie sich einen stäm¬ migen, wohlgenährten Landmann mit langem, schlichtem Haare und breitem Gesichte, dessen normal-Ausdruck die Milde ist, geben Sie dieser Gestalt eine grobe, unschöne, fast zu ärmliche Dörflertracht, malen Sie sich ein kaum wohnliches Zimmer in einem alten wüsten, schloßähnlichen Pfarrgebäude mit allen Emblemen der Gelehrsamkeit aus, mit ungeheueren Folianten, staubigen Repositorien, Bücherhaufen unter dem Ofen, dem ärmlichen Lager, auf dem Sopha — versetzen sie diesen Mann in diese Umgebung, so haben Sie Theiner in sei¬ nem Studirzimmer. Leiten Sie ein Gespräch mit ihm ein, so ist er anfangs bei den gewöhnlichen conventionellen Redensarten schüchtern und unbeholfen, aber hat er Sie als Geistesverwandten erkannt und kommt er auf die Hierarchie, auf Rom und den Clerus zu sprechen, so steht ein ganz anderer Mann vor Ihnen, ein Mann, der in beredter Zunge den Schatz seines Wissens vor Ihnen ausbreitet, der nicht müde wird, stundenlang zu pcroriren und mit jeder Minute die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Hörers reizt. — Was ick) Ihnen vor nicht langer Zeit prophezeiht habe, ist eingetroffen: Hr. v. Holtei tritt, nachdem er unsere Theaterzustände gründlich confundirt hat, von seinem Dirigenten-Posten ab. Wohl ihm und wohl auch uns, Holtei lebt nur, wenn er wandert; er ist nicht er selbst, wenn etwas, was man im gewöhnlichen Leben Geschäft nennt, ihn um einen Ort fesselt. Wahrscheinlich treten die Hrn. Kiesling und I>. Leop. Schweißer an seine Stelle. x. III. Aus Berlin. Politische Stimmung im Februar. — Bettina und ihr Buch der Armuth. — Die Gräfin Hahn und Bettina als Aristokraten. — Gesellschaft in Berlin und die deutschen Salons. — Das Haus des Grafen Westmoreland. — Steffens und die Aristokratie der Geistreichen. — Der Blaubart und die Waise von Lucca. — Die vornehmen Tartüsses des Liberalismus. — Jesuitenliteratur; Rutenberg. — Für Herrn P. Ackermann. — Den verflossenen Monat wird man einen sehr merkwürdigen und eigenthümlichen in dem berlinischen Leben nennen müssen. Das Con- stitutions-Gerücht hatte sich so allgemein und lebhaft verbreitet, daß es an manchen Tagen schien, als hatte Berlin das Ohr an das Schlüs¬ selloch des königlichen Kabinets gelegt. Eine so athemlose Stille war über die Stadt gebreitet. Die seltsame Spannung, die sich der ganzen Bevölkerung bemächtigt, war auf allen Gesichtern, in allen Neben, in allen Gesellschaften, an allen öffentlichen Orten, auf allen Straßen möchte man sagen, ausgedrückt. Es war auch fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/580>, abgerufen am 01.07.2024.